OH GOD ; I TRIED ; AM I LOST IN YOUR EYES ?

hi Leute, der schreiber dieses blogs ist nicht mehr am leben, aber ich lasse hier vielleicht ab und an mal was durchblicken. abgesehen davon lasse ich aber alle seine posts usw. unangetastet.
ich vermisse dich, nic. in liebe, bones.

Dienstag, 29. Mai 2012

Familienfressen.

Jeder sitzt auf seinem Stuhl, alle nebeneinander und hübsch um den Tisch drapiert. Vor uns - ein riesen Berg Essen. Wenn ich riesig sage, meine ich es auch - er ist gigantisch. Wann ich das letzte Mal so viel Nahrung auf einem Haufen gesehen habe, weiß ich nicht mehr genau, aber ich bin sicher, dass es im Fernseher war. Während ich mich noch frage, woher eigentlich das ganze Geld für die anstehende Völlerei stammt, fängt der Rest schon an, sich Essen auf die Teller zu schaufeln. Ich blinzle ein paar Mal unschuldig, greife langsam zu der Platte (- sagt schon alles, oder? Platte. Hatten wir dieses Geschirr schon immer?) mit den gefüllten Paprikas und bugsiere die kleinste davon auf meinen Teller. Anschließend werde ich einen verstohlenen Blick zu Letty, doch die ist mit ihren Kroketten beschäftigt. Fettige, ekelhafte Kroketten. Ich unterdrücke einen Schauer.

Meine anschließende Analyse der am Tisch sitzenden Personen tarne ich als ausschweifenden Blick über das, was es außer gefüllten Paprikaschoten noch im Angebot gibt. Rechts von mir sitzt meine kleine Schwester, sich unbekümmert das ungesündeste Zeug auf ihren Teller ladend. Daneben meine Mutter, die gerade an ihrem Weinglas nippt und mit aller Mühe versucht, meinem Blick auszuweichen. Ihr gegenüber sitzt Adelie, die sich von ihrer Mutter - daneben - gerade Bohnen auffüllen lässt. Es ist faszinierend zu sehen, wie sie kurz darauf zu ihrer Gabel greift und das Gemüse ohne Erbarmen in ihren Schlund stopft. Mein Mund wird ganz trocken, irgendwann reiße ich mich von dem Anblick los und sehe Clarisse zu, wie sie ihr Stück Fleisch anschneidet und prüft, ob es gar ist. Sie bemerkt, dass ich ihr dabei zusehe, eine Falte tritt zwischen ihre Brauen. Gedankenlos schneidet sie ein Stück ab und hält es, auf ihre Gabel gespießt, zu mir herüber. So abrupt das geschieht, starre ich es entsetzt an, bis ich bemerke, dass Clarisse mich angesprochen hat.
"Willst du mal probieren?!"

Probieren. Ich. Das da.
Mir kommt es beinahe schon wieder hoch.
"Ich- nein!", würge ich irgendwie hervor, dann springe ich von meinem Platz und stürme zur Toilette, den Gestank des toten, gekochten Tieres noch immer in der Nase.

Als ich wiederkomme, haben sie bereits mit dem Nachtisch angefangen. Clarisse springt sofort auf, als sie mich sieht, und entschuldigt sich heftig. Sie hätte vergessen, dass ich kein Fleisch esse. Ich winke ab, ich bin zu müde um ihr zu sagen, dass ich sie für eine elende, provokante Lügnerin halte. Statt mir den Bauch voll schlagen zu müssen, kann ich die Völlerei überspringen und zusehen, wie sie ihren Kuchen vernichten. Schließlich ist es Adelie, die mir in den Rücken fällt - "Nic, willste nich' auch noch Kuch'n?".
Ich tue so, als wäre es kein Problem, lasse mir ein Stück von der Käsetorte abschneiden und stochere darin herum. Als ich mich schließlich dazu überredet habe, auch mal anzufangen, zu essen, kommt es mir vor, als würde ich auf einem alten Teppich herum kauen.

Als keiner hinsieht, schmeiße ich den Rest meiner Portion in den Müll und begrabe sie unter zwei Taschentüchern.
Morgen, das weiß ich, wird meine Psychiologin über mir verzweifeln.

Freitag, 25. Mai 2012

Bitte lüg' mich an.

Sie ist es.
Es genügen die ersten zwei Sekunden, nachdem ich den Hörer abgenommen habe, um zu wissen, wer da angerufen hat. Es ist nur ihr Atmen allein, die kurze Pause, die sie macht, nachdem ich meinen Namen in die Muschel spreche und auf eine Antwort warte. Ich warte - auf irgendwas, irgendeinen Laut von ihrer Seite, doch sie bleibt stumm. Nachdem wir uns eine Weile nur anschweigen, frage ich sie, warum sie überhaupt anruft, wenn sie mir nichts zu sagen hat.

Cilli macht mir keinen Vorwurf, dass ich in die Geschlossene gehen musste. Sie sagt, ich tue das Richtige, und wenn ich nichts esse, dann ist das wohl das Richtige für mich. Ich muss die Stirn runzeln über so viel grundloses Vertrauen, das sie von einem Moment zum anderen in mich zu haben scheint, aber lange kann ich mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Plötzlich fängt sie an zu wimmern.
Sie sagt, dass es ihr Leid tut. Ich vergewissere mich, dass meine Tür fest geschlossen ist - wegen meiner kleinen Schwester - , dann fange ich an, sie zu beschwichtigen. Warum denkt dieses dumme, dumme Mädchen denn nur, dass es ihre Schuld ist? Es ist doch meine eigene!
Dass ich sie hätte anrufen sollen, schluchzt sie in den Hörer, dass ich ihr hätte sagen müssen, dass ich nicht daheim bin. Ich versuche, sie irgendwie zu beruhigen - ich habe ihre Nummer doch nicht. Sie ruft doch immer unterdrückt an. Ich weiß ja nicht mal, wo sie gerade ist! Wie hätte ich ihr denn Bescheid sagen können, selbst, wenn ich es gewollt hätte?

"Wo bist du", frage ich die ewige Frage, tonlos.
"Ich hab dich gebraucht, Nic, scheiße!", zischt sie zurück, und plötzlich scheint sie weniger aufgelöst, sondern eher wütend, "und dann geht deine Schwester an das Telefon und erzählt mir, dass du in der Klapse bist! Wie soll ich mich da bitte fühlen, du Idiot?"
Weiß ich nicht.
Aber dass ich ein Idiot bin, dass weiß ich jetzt. Letty hat Recht gehabt, ich hätte auf sie hören sollen, ich hätte nicht weiter mit Cilli reden sollen, ich hätte - "Tut mir Leid. Wirklich."
Obwohl ich weiß, dass es falsch ist, bin ich dermaßen erleichtert, als sie "schon gut" zurückflüstert.
Sie hat mir vergeben. Schon wieder.

Von meiner Nierenkrankheit weiß sie nichts - ich habe es erfolgreich geschafft, ihr schon fast fünf Monate nichts davon zu erzählen. Ich sage ihr, dass es mir gut geht. Dass ich da sein werde, wenn sie anruft. Dass ich wieder ordentliche esse - dass ich abhebe, wenn sie mich braucht.
Sie sagt mir, dass sie mich vielleicht bald mal wieder besuchen kommt.

Wir sind so gute, bittere, verzweifelte Lügner.

Mittwoch, 23. Mai 2012

Täglich wenn die Nacht anbricht.

Ich liege mit weit geöffneten Augen im Bett, kann nichts schmecken, kann nichts sehen. Die Stille liegt finster und bedrückend auf meinen Ohren, ich erfahre mal wieder, wie unglaublich laut leise sein kann. Mein Mund ist staubtrocken, als hätte ich das letzte Mal vor Wochen etwas getrunken. Blind taste ich nach der Wasserflasche an meinem Bett, würge ein paar Schlucke herunter. Es ist nicht die Hitze, die mich so erdrückt, sondern die Last meiner Gedanken. Gegen die allumfassende Wärme kann man etwas unternehmen - abends kalt duschen, die Fenster auf Durchzug öffnen, nackt schlafen.
Aber was tut man, wenn die eigenen Gefühle einen zur schieren Verzweiflung bringen? Mein Magen rumort, ich bilde mir ein, dass es ein Verdauungsgeräusch ist, kein dumpfer Schrei nach Futter. Eine Weile wälze mich nach links, werfe mir wieder und wieder Tatsachen vor, denke an meine Stunden bei der Therapeutin, die ich jetzt öfter sehe, als mir eigentlich lieb ist.

Es ist zu deinem Besten, Nic - das sagen sie immer, alle. Teilweise scheinen sie schon vergessen zu haben, dass ich der chronisch nierenkranke Junge bin, denn irgendwie scheinen herausstechende Knochen plötzlich wichtiger zu sein, als ein sich langsam von innen vergiftender Körper. Schön! Wann war denn auch mal das Äußerliche eines Menschen unwichtiger als das, was in ihm drin vorgeht?
Obwohl es ungerecht ist, das zu behaupten, schließlich ist meine Pyschiaterin ja genau dafür da - um mir selbst zu zeigen, wie es in mir aussieht. Und warum. Und warum auch ich zu diesen Menschen gehöre, die es viel wichtiger finden, dass sie dünn sind, als dass sie tatsächlich krank sind.
Ich wälze mich nach rechts, es ist jede Nacht das gleiche.

Also stehe ich doch auf, schleppe mich zum Computer, schalte ihn an und lese, was ihr mir schreibt. Lese, wie es anderen geht, schwinge große Reden, mache mich wichtig.
Mache euch euch selber wieder wichtig.
Ihr seid wichtig.

Achja.
Und ich wollte mich für BELLA freuen. Dass sie wieder da ist, irgendwie.
Und dass es ihr bald wieder besser geht, hoffentlich.

Freitag, 18. Mai 2012

Acht Stimmen für Entwürdigend.

Bevor ich gegangen bin, habe ich eine kleine Umfrage erstellt - um zu sehen, was ihr darüber denkt, wie es ist, in einer Einrichtung zum Essen gezwungen zu werden. Vielleicht wollte ich mich damit beruhigen, ich weiß es nicht mehr genau. Ich beantworte mir die Frage erst, als ich schon wieder zurück bin - und gebe damit der Möglichkeit meine Stimme, die die meisten von euch angeklickt hatten - "Entwürdigend".
Ja, denn genau das war es - es hat mich schwach aussehen lassen, mich mich gebrechlich fühlen lassen, als wäre ich jemand, den man durchfüttern muss, den man zum Essen zwingen muss, weil er selbst zu unvernünftig ist, es zu tun. Weil er sonst verweigert.
Das Schlimme daran war - es entspricht der Wahrheit.

Für mich war allerdings ein weiteres Problem, dass ich weder Fleisch, noch andere Produkte von Tieren esse. Zunächst einmal wollte man mir weiß machen, dass das eine ungesunde Lebensweise sei, die ich auf Dauer nicht aufrecht erhalten sollte und darf. Tatsächlich verlangte man von mir, dass ich nicht nur Eier esse und Milch trinke - was ich ja im Entferntesten noch irgendwie nachvollziehen kann - sondern auch Fleisch zu mir nehme.
Während ich diese Zeilen schreibe, werde ich wieder wütend. Wie konnten diese Menschen es nur wagen, mir vorzuschreiben, was ich zu essen habe? Dort zu sein war schon Qual genug - warum mir jetzt auch noch erklären wollen, dass meine Prinzipien nur Auswüchse jugendlichen Eifers, die Welt retten zu wollen, seien?
Ja, ich sehe ein, dass ich essen muss.
Aber nicht, dass man mir vorschreiben kann, was. 


Das erste Mal wieder Fleisch zu essen, ist so ziemlich das ekelhafteste, was ich bisher erlebt habe. Augenblicklich muss ich mich übergeben, und das nicht, weil ich gewollt hätte. Der Gestank, der Gedanke daran, etwas zwischen den Zähnen zu haben, das mal gelebt hat... es geht mir in diesem Moment nicht um mein Gewicht, sondern um meine Überzeugungen. Meine Betreuerin ist entsetzt, ruft Arzt und Psychiater.
Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen, als ich ihnen versuche zu erklären, dass ich verstanden habe, dass ich zunehmen muss. "Ja! Ich weiß es doch!", rufe ich schließlich verzweifelt, als sie zum dritten Mal ansetzten. Sie sollen mir zuhören, verdammt!
Es geht nicht um die Tatsache, zu essen, es geht darum, dass es mir die Galle hochtreibt, ein Tier zu zerkauen!

Irgendwann haben sie es übrigens verstanden.
Irgendwann einigen wir uns darauf, dass ich zumindest in meiner Phase, in der ich lebensbedrohlich unterernährt bin, nur vegetarisch statt vegan leben darf.

"Darf".
Es ist so entwürdigend, zu wissen, dass ich überhaupt erst einen Kompromiss eingehen musste.

Dienstag, 15. Mai 2012

Wie Hänsel seiner Gretel nachlief.

Nachdem ich irgendwann gestern Nacht von einem meiner ziellosen Spaziergänge zurück zur Wohnung gekommen bin, war Letty bereits in ihrem Bett gewesen. Ob sie geschlafen hat, weiß ich nicht - ich zumindest habe noch Ewigkeiten wach gelegen. Eigentlich streiten meine kleine Schwester und ich uns nie. Sie ist nicht wie gewöhnliche Zwölfjährige. Letty ist sonderbegabt, schon in der neunten Klasse und wirklich unglaublich vernünftig. Manchmal kommt es mir vor, als hätten sie und meine Mutter, die leider in vielen Punkten als eine solche versagt, Rollen getauscht. Letty ließt keine Kinderbücher, sondern Fremdwörterduden. Letty spielt nicht mit Kuscheltieren, sondern näht sich selbst Klamotten. Es ist wirklich erstaunlich, was dieses Mädchen alles kann.

Genau so gut kann sie in mich hineinsehen. Ich wage zu behaupten, dass es keinen Menschen auf der Welt gibt, nicht einmal meine Exfreundin, die mich so gut versteht, wie sie. Dabei müssen wir nicht viel miteinander reden - wir tuen es, natürlich, aber es ist im Grund genommen unnötig. Wir verstehen uns blind.
Vielleicht wusste ich deshalb, dass sie mir etwas verheimlicht hatte, seit ich wieder da war. Als sie dann in mein Zimmer kam und mir gestand, was sie in meiner Abwesenheit getan hatte, traf es mich also nur halbwegs unvorbereitet.
Noch nie habe ich die Entscheidung meiner kleinen Schwester so angezweifelt, wie jetzt. Beim Aufstehen überlege ich immer noch, ob ich dankbar oder wütend sein soll. Auf der einen Seite hat sie mich vielleicht von meinem ewig währenden Elend erlöst - hat vielleicht dafür gesorgt, dass Cilli nie wieder anruft und ich sie irgendwann vergessen kann.
Aber das will ich eigentlich nicht. Diesem Mädchen bin ich bedingungslos verfallen, ich würde alles für sie tun, deshalb lasse ich mich von ihr hinhalten, deshalb lasse ich mit mir spielen. Es ist kein schönes Spiel, aber erträglich, wenn ich weiß, dass sie dadurch zufriedener wird. Wenn ich weiß, dass ich dadurch in ihren Gedanken und in ihrem Herzen bleibe, egal, wo wir sind. Sie gibt mir das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden.
Ob Cilli mich liebt, weiß ich nicht. Und ich weiß nicht, ob das, was ich für sie empfinde, Liebe ist.

Aber dass ich Letty liebe, dessen bin ich mir sicher. Als ich in die Küche komme, sitzt sie dort, vor ihr eine Scheibe Brot, die sie gerade essen will. Ich nehme ihr gegenüber Platz, doch sie steht auf und räumt ihre Sachen weg. Bevor sie geht, bleibt sie plötzlich im Türrahmen stehen. Ihre Stimme klingt tonlos, als sie mich fragt, warum ich sie nicht aufhalte. Ich zucke nur mit den Schultern. Ich wollte mich ihr nicht aufdrängen.
Letty dreht sich zu mir um, unter ihrem Blick wird mir unbehaglich. Minutenlang starren wir einander an, dann entschuldige ich mich schließlich dafür, dass ich sie nach ihrer Beichte hab stehen lassen. Ich sage ihr, dass meine Reaktion zu heftig war, und sie nickt kühl.
Sie nimmt meine Entschuldigung an - aber verzeihen wird sie mir erst, wenn ich tatsächlich nie wieder mit Cilli rede. Das muss sie nicht sagen, aber es ist klar, als die Tür ihres Zimmers hinter ihr ins Schloss fällt.
Ich senke den Blick und starre auf mein Frühstück.
Mir ist der Appetit vergangen.

Ich kann mich noch nicht zwischen meiner Schwester, meiner Sehnsucht und dem Tod entscheiden.

Sonntag, 13. Mai 2012

Wie ein Schlag ins Fensterglas.

Natürlich hätte ich vorher schon wissen müssen, dass ich nicht ganz ungeschoren davon kommen kann. Ich sitze ahnungslos an meinem Fenster, die Knie angezogen, den Blick nach draußen gewandt und schaue dem Sturm dabei zu, wie er in den Baumkronen wühlt. Es ist aufreibend und beruhigend zugleich, und immer wieder versuche ich, zwischen dem heftigen Sturm da draußen und meinem Leben in mir drinnen keine Parallelen zu ziehen - aber es geht einfach nicht. Da ist zu viel Vergleichbares, zu viel, das zueinander passt.
Ich denke mir gerade, dass sich der Wind zumindest etwas gelegt hat, seit ich wieder zu Hause bin, da klopft es an der Tür. Es ist weniger der Umstand, dass es sich bei der hereinkommenden Person um Letty handelt, der mich beunruhigt, als dass sie angeklopft hat.
Sie hat auf meine Erlaubnis gewartet, sie hat gezögert. Das hat sie vorher nie gemacht - vorher, bevor man mich für eine Woche von ihr weggesperrt hat. Ich sollte es natürlich positiv sehen - dass sie meine Privatsphäre respektieren will. Dass sie mich nicht überraschen will. Dass sie höflich sein will.
Aber wie viel höfliche Zurückhaltung verträgt eine Zwölfjährige, die eigentlich sorglos in mein Zimmer platzen sollte, laut lachend und ohne mögliche Angst davor, dass sie mir mit etwas, das sie tut, schaden könnte? Ich sehe sie an, ich weiß sofort, dass sie etwas bedrückt.
Es mag egoistisch klingen, aber ich bin mir sicher, dass es mich betrifft.
Ich mache die Kindheit meiner kleinen Schwester mit jedem Tag kaputter.

Letty weiß, dass ich noch an Cilli hänge. Sie weiß, dass die mich immer wieder hinhält, und sie findet, ich sollte dieses Mädchen vergessen. Das finde ich auch. Und ich kann nicht. Und ich finde es genau so furchtbar wie sie, dass ich ihr nicht sagen kann, wie sehr es mich aufregt, dass sie für mich weiterhin wie ein Phantom bleibt.
Wenn Cilli mich anruft, dann unterdrückt. Dann so, dass ich nie antworten könnte.
Sie hat mich vollkommen unter ihrer Kontrolle, ist gleichzeitig aber unerreichbar für mich - und mir ist alles, sogar das, lieber, als wenn ich nie mehr mit ihr reden dürfte.

Das Gefühl ist vergleichbar mit dem, wenn man ein Knie in die Magengegend gestoßen bekommt. Sekundenlang wage ich es nicht zu atmen, zu blinzeln. Was Letty mir beichtet, bestätigt genau das, was ich bereits befürchtet hatte. Dabei hatte ich so darum gefleht, dass es nicht passiert!
Cilli hat angerufen, während ich eine Woche fort war. Tonlos schaffe ich es, zu fragen, was Letty ihr gesagt hat. Sie blickt mich gequält an. "Die Wahrheit", bringt sie irgendwie hervor, und plötzlich habe ich das irrsinnige Bedürfnis, irgendwas irgendwo runter zu werfen.
"Und ich hab' ihr gesagt, dass sie dich in Ruhe lassen soll, verdammt!", höre ich noch, bevor ich aus der Wohnung gestürmt bin.

Wo ist vorne, wo ist hinten? Ich kann so schwer mit mir selber leben.
Wer ist jetzt der oder die Böse - meine Schwester, die mir nur helfen will? Das Mädchen, dem ich verfallen bin?
Am einfachsten ist es, sich selbst zu verurteilen.

Die stärkste Liebe ist immer die, die nicht erwidert wird.

Freitag, 11. Mai 2012

Alles beim Alten, nichts wie's mal war.

Als ich aufschließe und einen Schritt in die Wohnung mache, ist es für einen Moment ungewöhnlich still. Ich zerre meine Tasche hinter mir her, bis sie auf dem Flur liegt. Sie sieht ausgebeult und ein bisschen mitgenommen aus, in etwa so, wie ich mich fühle. Plötzlich springt die Tür rechts von mir auf, Letty stürmt aus ihrem Zimmer und wirft sich mir um den Hals, irgendwas kreischend. Ich muss einen Schritt rückwärts machen, um ihr Gewicht halten zu können. Als sie mich nicht loslässt, klammere ich mich mit einer Hand am Türrahmen fest, um nicht umzukippen.
Ist sie schwerer geworden - oder ich einfach schwächer? Es ist zum Jagen, dass mir in so einem, eigentlich so schönen Augenblick solche Gedanken durch den Kopf gehen. Ich bin wieder zu Hause! - das heißt, zumindest an dem Ort, der noch für zwei, drei Monate mein Zuhause sein soll. Ich sollte mich freuen! Ich grinse ein wenig vor mich hin, meine kleine Schwester im Arm.
Clarisse kommt aus der Küche, sie lächelt wohlwollend. Es ist seltsam, ich habe schon fast vergessen, Clarisse lächeln zu sehen. Meine Mutter und meine Stiefmutter scheinen noch nicht da zu sein, aber Adelie kommt hinter ihrer großen Schwester hervor, wirft einen kurzen Blick zu mir und Letty herüber, raunzt etwas wie "da biste ja wieder!" und schlurft in ihr Kinderzimmer, dessen Tür sie mit einem lauten Knall zuschlägt.
Ich kann nicht anders, ich muss noch breiter grinsen.
Wirklich, es hat sich absolut nichts verändert.

Obwohl das nicht ganz richtig ist. In mir drin - da hat sich einiges verändert. Ich weiß nicht, wie lange es anhält, ob ich es schaffen kann. Ob ich eben bald wieder in mein altes Muster zurückfalle. Aber genau genommen will ich es auch noch gar nicht erfahren - um nicht jetzt schon von mir selbst enttäuscht sein zu müssen.
Denn es ist wahr - diese Woche hat mir was gebracht. Aber meine Augen auf Dauer öffnen? Das wäre doch zu einfach. Denn wenn es wirklich so schnell gehen würde, gäbe es nicht so viele wie uns.
Uns - wir, die so viel Leere in uns haben, dass wir voller sind als jeder Erfüllte. Dass wir überquellen davon, nicht wissen, wohin, und uns deshalb im Kreis drehen. Wir, die wir eben mit diesen Gedanken gesegnet oder verflucht sind - Auslegungssache. Vielleicht sind wir nicht blind. Aber mit felsenfest geschlossenen Augen.
Und daran ändert eine Woche nichts, Fräulein M. Egal, was Sie sagen.

Die Wahrheit ist, dass ich ganz froh bin, als Letty einfach mit auf mein Zimmer kommt, sich auf meinem Bett zusammenrollt wie eine zufriedene Katze, und ihre Augen zumacht. Um mich nicht zu sehen, um mich nicht zu fragen, wie es gewesen ist. Um mir nicht zu erzählen, was ich verpasst habe.
Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich dankbar dafür bin, dass jemand die Augen so konsequent vor mir geschlossen hält.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Macht's gut und auf Wiedersehen.

Sie durchschaut mich sofort - ich komme zur Tür rein und habe das Gefühl, dass sie alles über mich weiß. Komplett. Augenblicklich. Die Mühe, mir eine ausgebeulte Hose, einen weiten Pullover und darunter zwei T- Shirts anzuziehen, hätte ich mir überhaupt nicht machen müssen. Gestern noch habe ich überlegt, warum ich Angst vor dieser Frau habe - jetzt ist es mir ohne Zweifel klar. Weil sie alles über mich weiß, ohne auch nur mit der Wimper zucken zu müssen.
Da sie nichts sagt, frage ich sie, was gestern passiert ist, dass mein Termin verschoben wurde. Sie schürzt nur die Lippen und rückt ihre Brille zurecht. Dann sagt sie, dass ich nicht so tun soll, als wäre ich nicht erleichtert gewesen. Wie Recht sie hat - denn das war ich, zumindest für einige Sekunden, wirklich. Bis mir klar wurde, dass aufgeschoben eben nicht aufgehoben ist. Auf meine Frage antwortet sie natürlich nicht, sondern schiebt mir wortlos die Mappe mit meinen Blutwerten zu. Ein kurzer Blick darauf genügt mir, um zu wissen, dass es nicht gerade rosig um mich bestellt ist. Langsam sehe ich wieder auf, beobachte meine Ärztin, die sich für einen Augenblick lang unbeobachtet zu schein fühlt. Sie ist alt, fett und unfreundlich, aber heute sieht sie ganz besonders aus wie eine bissige Bulldogge. Als sie meinen Blick bemerkt, grunzt sie, schüttelt den Kopf.
Nein, kein passendes Organ gefunden. Darauf war ich vorbereitet.

Auf das, was folgt, nicht. Soll heißen - ich habe mich davor gefürchtet. Deshalb konnte ich nicht schlafen. Deshalb konnte ich kaum klar denken. Deshalb konnte ich den ganzen Tag keinen Bissen essen.
Sie steht auf und sagt, ich soll meinen Pullover und meine Schuhe ausziehen. Ich bleibe sitzen. Sie zerrt eine große Wage dabei, die sie bestimmt noch aus dem ersten Weltkrieg oder so was aufgehoben hat (nicht nett, ich weiß, aber sie ist wirklich furchtbar). Sie wiederholt ihre Aufforderung. Langsam mache ich mich daran, meine Schuhe aufzuknoten. Als ich anschließend den Pullover immer noch nicht ausgezogen habe, bellt sie mich förmlich an, es doch zu tun. Ich sage nein. Sie wird wütend, macht mir Vorwürfe. Also gebe ich nach.

Es ist der Moment, vor dem ich mich gefürchtet habe. Seit ich diesen Blog gestartet habe, stand ich nicht mehr auf der Waage. Ich will das Ergebnis nicht sehen... das heißt - ich will es schon. Irgendwie. Ein wenig. Aber SIE soll es nicht - nur leider führt kein Weg daran vorbei.
Für einen Augenblick lang kann ich nicht glauben, was da steht. Das Herz springt mir bis zum Hals. Wie gebannt blicke ich auf die Zahl. Meine Ärztin nimmt ihre Brille ab und sieht mich lange an. Dann dreht sie sich um und stapft zu ihrem Telefon, drückt nur eine Taste und benachrichtigt meine Psychiaterin.
"Dominic J. wird ab morgen eine Woche bei Ihnen bleiben", blafft sie in den Hörer, "wozu haben Sie den Jungen überhaupt so lange auf der Straße gelassen? Sein BMI ist bei 13 nochwas!"

Mir rauscht es noch im Kopf, als ich langsam nach Hause gehe. Eine ganze Woche. Eine ganze Woche lang werden sie versuchen, mich voll zu stopfen. Im Flur angekommen tritt mir meine Mutter entgegen. Sie weiß schon Bescheid, ich sehe es ihr an - aber sie sagt kein Wort. Tut sie nie. In meinem Zimmer steht bereits eine Tasche, die ich vermutlich packen soll, eine stumme Aufforderung, die sie niemals aussprechen würde. Letty geht an meiner Tür vorbei, bleibt stehen und starrt mich an.
Ich blicke nicht auf. Ich kann nicht.
Ich kann ihr nicht in die Augen sehen.

Mittwoch, 2. Mai 2012

Eine verlängerte Galgenfrist.

Ich bin nicht gerne hier. Ich fühle mich unwohl, ich zucke bei dem kleinsten Geräusch zusammen. Es muss nur ein Vogel sein, der draußen am geöffneten Fenster vorbei flattert, und ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Stattdessen starre ich diesem Tier nach, das so leichtfertig davon fliegt. Warum haben Tiere eigentlich kaum Probleme mit Beziehungen, Familie, Krankheit und Gewicht? Hätte ein Spatz in freier Wildbahn Organprobleme, würde er einfach sterben.
Doch wir Menschen klammern uns aneinander, um auch das natürlichste, das uns noch erhalten geblieben ist, zu vertreiben, verscheuchen und vergessen - den Tod. Dabei wäre es so viel einfacher, wenn sie mich einfach lassen würden. Wenn ich nicht jede Woche in dieses Krankenhaus kommen müsste, um mich untersuchen zu lassen, um fest zu stellen, dass sich nichts verändert hat. Wenn ich nicht jeden Tag diese vielen Medikamente schlucken müsste, von denen mein Leben abzuhängen scheint. Und es gibt wirklich nichts schlimmeres, als von irgendwelchen Kapseln abhängig zu sein, dessen bin ich mir komplett sicher. Vielleicht beneide ich den Vodel deshalb so?

Ich sage ja nicht, dass ich sterben will. Ich kann Letty nicht alleine lassen, außerdem ist da ja der mir bereits sichere Studiumsplatz. Dass ich Zukunft habe, sage ich mir immer wieder, eine Zukunft, die ich nicht verlieren möchte. Aber was ist denn schon eine verlorene Zukunft, wenn man im Grunde genommen auch keine Gegenwart besitzt? Was ist das für ein Gefühl, das in meiner Brust sitzt - das mir sagt, dass ich hoffnungslos auf so viel angewiesen bin, auf Medikamente, auf Untersuchungen, auf Spritzen, auf finanzielle Unterstützung, auf zwei immer noch nicht gefundenen Spendernieren?

Es ist ein Tanz mit mir selbst, wie auf einem hoch gespannten Seil. Auf der einen Seite gebe ich nicht nur vor, sicher zu stehen, die Stange mit beiden Händen gepackt zu haben und Balance halten zu können - sondern glaube es wirklich. Weil ich es will. Weil es mir hilft.
Und auf der anderen Seite bin ich doch eigentlich schon nur so heftig am Wanken, wie ich kann - habe die Stange schon längst verloren. Also ist es eigentlich nur noch eine kurze Frage der Zeit, dass ich falle, richtig?

Eine Krankenschwester kommt zu mir und fragt, ob ich auch morgen Zeit hätte. Es sieht danach aus, als habe meine Ärztin einen privaten Zwischenfall und könnte deshalb nicht zum vereinbarten Termin. Ich nicke nur, auch wenn es sich anfühlt, als hätte man den Galgen, mit dem ich mich schon angefreundet hatte, wieder so verschoben, dass ich ihn mit wachsender Panik betrachten kann.
Dann also morgen.

Dienstag, 1. Mai 2012

Alte Gewohnheiten.

Langsam aber sicher fange ich an, nicht mehr an Zufälle zu glauben.
Ich will mir eigentlich nur noch mal die Beine vertreten, bevor ich mir den letzten Lernstoff ansehe. Ich gehe im Kopf alles, was ich bisher reingeschleust habe, noch mal durch. Dabei achte ich weniger auf meine Füße, als darauf, auch jede Form von Artenbildung auswendig zu können. Schließlich mache ich eine Pause - ja, der große dürre Junge hat die gleiche Ausdauer wie der dicke alte Mann dort hinten - und lasse mich auf einer Parkbank nieder, um ein wenig zu verschnaufen. Meine Schulter, die gestern noch wie Hölle weh getan hat, scheint sich mittlerweile mehr oder weniger beruhigt zu haben. Zwar tut es ab und an noch weh, den Arm über den Kopf zu heben, aber generell ist sie kein Grund mehr zur Besorgnis.

Ja, da bin ich mit den Gedanken auch schon wieder bei dieser bizarren Party, zu der ich gegangen zu sein mittlerweile mehr als bereue. Als wäre das alles nicht genug, fällt plötzlich ein Schatten auf mich. Verwundert darüber, dass die in der Sonne stehende Person nicht weiter geht, hebe ich den Kopf - und erkenne, blinzelnd, Cassy. Sie sieht ganz anders aus, als in der besagten Partynacht - ihre blonden Haare fallen jetzt in leichten Locken bis zu ihren Schultern, sie ist ungeschminkt und trägt einen dicken Mantel, obwohl es eigentlich sehr warm ist. Für einen Augenblick starren wir uns nur an, dann nimmt sie neben mir auf der Bank Platz. Plötzlich wünsche ich mir, ich hätte einen weiteren Pullover angezogen. Der, den ich jetzt trage, geht mit nur bis zu den Armbeugen, sodass man meine mickrigen Unterarme deutlich sehen kann.
Ich fühle mich noch immer unbeschreiblich unwohl - nicht nur wegen der Stille zwischen uns - als sie anfängt zu sprechen. Sie erkundigt sich nach meiner Schulter, entschuldigt sich für das Verhalten ihres Freundes. Nachdem das abgehackt ist, fangen wir an, über Clarisse zu reden, bevor sie wieder persönlicher wird.

An dieser Stelle kann ich nicht anders und wimmle sie ab. Ich tue so, als müsste ich wieder Heim, da wir essen würden - ein ironischer Gedanke, wenn man bedenkt, dass ich nie mit den anderen zu Mittag esse.
Wann das angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Irgendwann hat eine Apfelsine am Morgen eben für den ganzen Tag gereicht. Als ich mich beim weggehen umdrehe, sitzt Cassy immer noch auf der Bank, völlig regungslos, den Blick auf den Boden gewandt. Ich weiß sofort, dass das alles nicht so verlaufen ist, wie sie wollte.

Später erzählt mir Clarisse, dass Cassy sich gestern noch von ihrem Freund getrennt hatte. Und dass sie Clarisse angerufen hatte, um zu erfahren, wo sie mich finden könnte, daraufhin zum Park kam.
Ich weiß wirklich nicht, was ich darüber denken soll.