OH GOD ; I TRIED ; AM I LOST IN YOUR EYES ?

hi Leute, der schreiber dieses blogs ist nicht mehr am leben, aber ich lasse hier vielleicht ab und an mal was durchblicken. abgesehen davon lasse ich aber alle seine posts usw. unangetastet.
ich vermisse dich, nic. in liebe, bones.

Donnerstag, 29. November 2012

Da ist immer noch ein Platz.

Ich sehe das Leid, jeden Tag auf der Station. Es grinst mir ins Gesicht, überdeutlich, wie ein nicht aufzuhaltender Fleck Schimmel an der Wand, der sich ausbreitet wie ein Zug ohne Endstation. Es wirft mir vor, mich so lange selbst bemitleidet zu haben und deutet anklagend mit ausgestrecktem Finger auf meine schmächtige Brust, wenn ich es auch nur wage, zu denken, dass ich es vielleicht nicht ganz so gut wie jemand anderes habe.
Was ist mein Leben gegen diese? Verglichen mit ihnen bin ich so gesund, so... lebendig. Ich sollte nutzen, was ich habe, doch nun sitzen wir hier und rauchen - bei euch die Zigaretten und bei mir der Schädel. Die Medizinerparty beginnt mir zu ängstigen, ich bin noch nicht bereit für so viele Menschen. Sie sind dann überall um mich herum, ausdruckslose Gesichter, Mädchen, die sich mir vorstellen und Jungen, die es genau deshalb nicht mehr tun. 

Medizinstudenten sind wie aufgescheute Hunde, die sich voller Eifer in einem Berg von Informationen wälzen. Irgendwann und viel zu spät kommt dann jedem die Erkenntnis, dass es die Hölle ist, diesen Gestank des Wissens abgewaschen zu bekommen, dass es die Gewissheit ist, die an uns nagt, die an uns haften bleibt, wie eine Pestwolke.
Jetzt wo wir lernen woraus der Mensch existiert, vergessen wir, dass wir selbst welche sind. 
Und einige von uns werden sich irgendwann als Götter sehen.

Ich liege im Bett und niese in mein Taschentuch  Meine Ohren glühen und meine Beine frieren. Warum musste es auch schon schneien? Meine Anfälligkeit macht aus meinem Neuanfang einen Beginn voller Krankenbesuche auf meinem Zimmer und mitgebrachter Erinnerungszettel. Ich vermisse die Menschen, die keine Dankbarkeit von mir erwarten, weil ich sie anlächle, sondern weil ich bei ihnen bin.
Ich denke an Bonnie, ich kann nicht schlafen. 
Ich werde fertig mit den Vorbereitungen und verkrieche mich unter meiner Decke, wo ich die angehenden Götter nicht sehen muss. Wo ich bald wieder gesund werde, um mit ihnen über Terminologie und Venerologie zu fachsimpeln.

Es fühlt sich gut an, nicht der zu sein, der ich sonst immer bin.
Aber ich fange schon an, mich nach mir selbst zu sehnen.


ICH ANTWORTE EUCH AB JETZT DIREKT UNTER MEINEM BLOG.
ICH SCHAFF'S SONST NICHT MICH DURCH EURE ZU WÜHLEN.
Das tut mir irgendwie Leid.

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Oh du liebe Einsamkeit.

Ich lasse meine Tasche aus der Hand gleiten und setze mich, nach kurzem Zögern, auf das unbezogene Bett. Das sind sie also. Meine vier Wände für die nächsten sechs, sieben Jahre. Ich bemühe mich, kontrolliert zu atmen, aber ich spüre etwas wie einen Riss in meinem Bauch. Seitenstechen. Schon wieder. Immer noch. Schon so lange.
Lange Zeit habe ich nicht, mich einzurichten. Kaum, dass ich mich irgendwie dazu überredet habe, aufzustehen, klopft es an der Tür. Nein. Nein. Lasst mich doch ein mal mit mir alleine sein. Die vergangenen Wochen war ich nur unter Beobachtung, nur an Schläuchen, nur von besorgten Gesichtern umgeben. Selbst ihre Herzen haben mir zu laut geschlagen. Ich will doch eigentlich nur Ruhe.

"Hallooo? Kann ich reinkommen?"
Nein.
"Ja...?"
Ein Gesicht schiebt sich hinein. Dunkle, freundliche Augen, überall schwarze Locken. Ein Junge, etwa in meinem Alter, kommt mit einem Lächeln auf den Lippen hinein. Wie fadenscheinig. Ich gehe zögern auf ihn zu, er gibt mir lächelnd die Hand.
"Mattheo. Ich glaub', wir sind Zimmernachbarn. Bist du auch ein Ersti?"
Mein Gehirn braucht ein bisschen, bis es funktioniert. Die letzten Wochen bin ich immer nur 'unser Patient auf der neun' oder 'Herr J.' gewesen. Dass mich jemand nicht kennt oder nicht von mir wissen will, was ich die letzten zehn Minuten gemacht habe, dass meine Werte so in den Keller gerauscht sind, ist eine ungewohnte Situation. Allein das sollte mir zu denken geben.
"Ich bin Nic - und, ja, ich schätze schon."
Falls er damit Student im ersten Semester meint, ja. Es ist wohl Glück, dass mein Kopf schnell genug arbeitet, um das aufzuholen, was ich sonst alles verpasst habe. Oder was zu schnell für mich war, weil ich den vergangenen Monat eher gelegen habe, als gelaufen bin.
"Na denn - freut mich, Nic. Wir sind Gang drei. Oder vier... ."
Er wirft einen Blick aus der Tür, dann lacht er. Warum habe ich eigentlich das Glück, immer an so unbeschwerte Menschen zu kommen? Ich seufze leise. Ich habe es eigentlich überhaupt nicht verdient - allein schon wegen meines Talents, Unbeschwertheit in Sorgen zu verwandeln. Allein mit meiner Anwesenheit. 
Mattheo hat noch nicht ein Mal von meinem Gesicht meinen Körper herunter geguckt. 
"Oh okay, Gang sechs. Na fast. Hast du Lust, mit was Essen zu kommen? Die anderen Jungs treffen sich in der Küche - alle sind übelst gespannt, dich kennen zu lernen."

Mich kennen lernen. Den Nachzügler. Den Zuspätkommer. Den aus dem Krankenhaus.
"Weil du der mit dem Stipendium bist."
Oh.






Dienstag, 4. September 2012

Am Ende des Weges ergibt es vielleicht Sinn.

Ich muss meine Gedanken sortieren. Ich muss einen Weg finden, mich selber zu finden. Ich muss diese Bilder vergessen. Ich muss weiter funktionieren, atmen, sprechen, lächeln. Ich muss weiterhin darauf bestehen, dass es mir besser geht. Ich muss schlucken, was sie mir vorsetzen, runter damit. Ich muss jemanden wie dich finden, jemanden, der mich tröstet. Ich muss diese Bilder vergessen. Ich muss in diese Gesellschaft passen. Ich muss mit der Einsamkeit fertig werden, mit dem Hass, mit dem Allein- Sein. Ich muss den Verlust betrauern und gleichzeitig nach vorne sehen. Ich muss lernen, arbeiten, fleißig sein. Ich muss Geduld haben. Ich muss es richtig machen. Ich muss Verstand beweisen, Verstand und Verständnis. Ich muss diese Bilder vergessen.

Es tut mir Leid.
Ich bin nicht mehr der, der euch hat warten lassen.
Ich bin weniger an Gefühl und mehr an Masse. Und mehr an Niere.


Aber ich bin wieder da.

Donnerstag, 9. August 2012

Wir waren Bonnie und Clyde.

"Du müsstest nicht gehen, wenn du nicht wollen würdest!", brüllt sie mich an.
Im ersten Moment kann ich nicht glauben, wie sie, so aufgewühlt, wie sie ist, noch so eine perfekte Grammatikstruktur in ihre Sätze bringen kann. Dass das absurd ist, weiß ich selbst. Meine Gedanken kontrollieren kann ich nicht, immer noch nicht. Vermutlich versuche ich es schon viel zu lange, als dass es irgendwann mal klappen könnte.

Sie ist doch diejenige, die geht.
Ich stehe minutenlang da, starre sie einfach nur an. Und Bonnie starrt zurück, mit ihren großen Augen, die einem Bauchschmerzen machen, selbst, wenn man eigentlich schon wochenlang keine mehr hatte. Sie schluckt, ich schlucke auch. Ich möchte sie in den Arm nehmen, irgendwas tröstendes sagen, aber ich kriege kein Wort heraus.
"Tut mir... Leid. Das war nicht fair."
Und natürlich verzeihe ich ihr. Was kann ich denn sonst noch für sie tun? Ich kann ja nicht mal bei ihr bleiben.
Unseren Abschied habe ich mir anders vorgestellt - schneller, besser, glücklicher.
Wir haben doch jetzt beide, was wir wollten, oder? Ich ziehe bald in dieses Studentenwohnheim, weg von meiner "Familie" und meiner ekelhaften Vergangenheit, die an mir klebt wie der Gestank von verbranntem Fleisch. Und sie kann endlich in die Klinik, in die sie schon so lange wollte, ohne das Krankenhaus als Zwischenstation zu besuchen. Sie wird lange dort bleiben, so, wie es ihr geht.
Als ich fort war, hatte Bonnie eine Art Anfall. Sie hat sich eine Küchenschere genommen und ihre Haare abgeschnitten, ihren wundervollen geflochtenen Zopf, den sie immer trug, der ihr bis zur Hüfte reichte.

Ich habe mir gesagt, dass es besser ist, als wenn sie sich in die blasse Haut geschnitten hätte - aber ich trauere diesen Haaren nach. Wenn ich sie jetzt sehe, mit den kurzen, fransigen Strähnen, sieht sie nicht mehr aus wie meine Bonnie.
Meine Bonnie, die immer so stark war. Die all denen, die sie "Hipster", "Poser" und "Tussgesichter" genannt hat, immer die kalte Schulter gezeigt hat, einen vernichtenden Blick, ein abfälliges Schnauben. Bonnie, die mich dazu gebracht hat, mein Leben ein bisschen mehr anzuerkennen, das zu schätzen, mit dem ich aufgewachsen bin. Die es so viel schlechter hat als so viele andere Menschen unserer Welt.

Ich möchte heulen.
Ich schäme mich nicht, das zuzugeben - vielmehr darüber ich mich, dass ich es nicht getan habe. Schließlich ist sie es, die wieder die Stärkere sein muss, die auf mich zukommt, die dünnen Arme um mich schließt. Oh, sie ist so klein! Sie ist so zerbrechlich! Es fühlt sich an, als würde ich die schmalere Ausgabe meiner kleinen Schwester umarmen. Für einen Moment verstecken wir uns vor dem Gesicht der Welt.
"Mach's gut, Clyde", flüstert eine dünne Stimme.

Und dann ist sie weg. Auf und davon.
Als hätten wir uns ein paar Seiten eines Romans geteilt. Wir waren das Team des Buches, die beiden Unzertrennlichen, die einander kaputt machten und immer wieder höher aufbauten.
Doch solche Tage sind gezählt.
Und irgendwann ist ein Kapitel eben vorbei.







Ich antworte euch allen, sobald ich kann. Mir geht es besser, besser als ihr glaubt. Ich bedanke mich bei jedem einzelnen von euch und werde eure Kommentare bald beantworten. Und ich muss euch später von Wacken erzählen - da ist etwas unglaubliches passiert. Oh, ich kann es kaum erwarten, wieder von euch zu hören!
Aber jetzt muss ich noch ein bisschen für meine kleine Schwester da sein, nur so lange, wie ich noch kann.
Wartet auf mich.

Freitag, 27. Juli 2012

Der Anfang ist immer dunkel.

Ich will euch erklären, was passiert ist, aber ich kann es selbst kaum begreifen. Es fällt mir so schwer zu glauben, dass Erdenzeiten dermaßen stark begrenzt sind. Ich verstehe nicht, was und ob ich etwas damit zutun habe. Woran kann es liegen, dass die Menschen um mich herum nicht glücklich werden können?
Vor kurzem noch haben wir miteinander gelacht. Oh, ich konnte diesen Kerlen nichts ausschlagen. Sie waren das erste Mal, dass ich Jungs zu richtig guten Freunden hatte.

Dieser Text kostet mich unglaublich viel Überwindung.

Ich stehe an Martens Bett, er sieht aus, als würde er schlafen. Mathis liegt daneben, er ist schwach, aber wach. Ich kann es kaum fassen, dass Daniel und er es gut überstanden haben, während Martens...
Mathis hat mal gesagt "von Martens kann man nichts erwarten", und das haben wir alle so im Raum stehen lassen. Es gab dem nie etwas hinzuzufügen. Er ist immer ein wenig zu schweigsam, zu berechnend. Er war immer der mit der Glanzleistung, der schonungslosen Ehrlichkeit und dem seltenen Lächeln. Wir haben uns gut verstanden, aber ich bin mir nie sicher gewesen, ob Martens wirklich ein verlässlicher Freund ist. Irgendwie hatte ich den Eindruck, er wäre immer nur auf seinen Vorteil bedacht.
Wie man sieht, bin ich seines Versprechens nicht würdig. Martens, mein Gott, Martens.
Ich hatte nie von dir erwartet, geschweige denn verlangt, dass du dein Leben für mich auf's Spiel setzt!

Er sieht mich an. Lange.
Verdammt, ich kann nicht aufhören, auf all die Pflaster zu starren, die sein Gesicht verziehen.
"Wenn ich das hier überstehe, Nic", krächzt er, "dann kriegst du meine Niere."
Er ist nicht zurechnungsfähig.
Der Autounfall, den Daniel, Mathis und er hatten, hätte ihm gezeigt, dass er handeln muss, sagt er. Sofort. Es könnte bald nicht nur für ihn, sondern auch für mich zu spät sein. Wir beide wussten, dass wir die selbe seltene Blutgruppe haben. Aber ich hatte nie von ihm erwartet, dass er dieses Opfer freiwillig für mich bringen würde.


Wie konnte ich jemals daran zweifeln, dass Martens mein Freund ist? Ich scheußlicher Mensch. Ich kann nur nicken und mich selbst widerlich finden, dafür, dass die Hoffnung in mir aufleuchtet. Hoffnung auf Rettung - Hoffnung auf die Niere. Ich dreckiger Dieb!
Ich sollte darauf hoffen, dass er nicht an seinen Unfallverletzungen stirbt, um SEINES Willens, nicht wegen mir selbst!


"Ich hätte bei euch sein können. Wenn ich mit zum See gefahren wäre, hätte ich im Auto gesessen", sage ich tonlos, zu niemandem bestimmten.
"Oh, du wärst doch komplett zerbrochen Alter", grinst Daniel. Daniel ist wach? "Sei einfach froh, dass du Migräne hattest."


Migräne.
Wohl eher Eingeweideverkrampfungen vor Hunger. In Anbetracht dessen, dass ich genau deshalb noch am Leben bin, ziemlich ironisch. 
Ein Autounfall hätte mich umgebracht. Deutlicher könnte Daniel nicht sein. Und irgendwie musste ich versichern, Martens Angebot würdig zu werden.


Willkommen, 51 Kilogramm.

Sonntag, 22. Juli 2012

Unfähigkeit.





Kann nicht atmen.
Kann nicht essen. 
Kann nicht fühlen. 
Kann nicht denken. 

 Kann nicht antworten. 
Tut mir Leid. 

Kann nicht realisieren.
Was da passiert ist.




 Oh ich will nie wieder jemanden enttäuschen.





Vorher hat es sich so richtig angefühlt.
Und jetzt so falsch.
Kann nicht sterben.
Hopefully.

Montag, 16. Juli 2012

Verdammt ich lebe noch.

Ich stehe vor dem Spiegel, zähle meine Rippen. Eins, zwei, drei vier. Fünf, sechs, sieben, acht. Alle noch da. Wunderbar.
Und du bist auch nicht mehr das, was du mal warst, Dominic. Irgendwas hast du falsch gemacht, stimmt's (Herrje, ich bin schon so weit, dass ich Selbstgespräche führe. Was kommt als nächstes.)? Was werden nur deine alten Freunde sagen, wenn sie dich in zwei Wochen wiedersehen? Was werden die wenigen Mädchen sagen, mit denen du dich gut verstanden hast, wenn du sie bei einem der vielen Konzerte nicht auf deine Schultern nehmen kannst, obwohl du so groß bist? Und was werden die Jungs sagen, wenn du das aufgedrängte Bier unangetastet lässt, weil deine Nieren den Schock nicht überstehen würden? 
Der Junge im Spiegel will nicht, dass die Freunde der Vergangenheit ein neues Bild über ihn bekommen. Sie sollen das alte behalten.
Das war irgendwie netter. Oberflächlicher, aber netter.

Mir ist wieder alles so gleichgültig geworden.
Sterb' ich heut nicht, sterb' ich morgen.
Das betrifft auch das Essen - auf Wiedersehen, hübsches Kilo. Oder wird es gar kein Wiedersehen geben? Vielleicht bleibe ich ja so, wie ich jetzt bin, dürr, groß, unausgeschlafen, verquollen, melancholisch, selbstmitleidig, hoffnungslos. Dann heißt es auch Abschied nehmen von dem "tollen neuen Leben", das mir angepriesen wird - von meinem Neuanfang. Tschüss. War aber nett, dich in Aussicht gehabt zu haben.

Aber das ist nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste ist, dass nichts davon mich wirklich umbringen kann. Gegen all das lässt sich irgendwie Kämpfen - Einsamkeit, Nierenkrankheit, Magersucht. Dagegen kann ich etwas unternehmen. Dagegen kann ich bestehen. Aber das macht keinen Sinn.


Am Ende werden sie um mein Totenbett herumstehen. Letty wird weinen. Ob Bonnie kommen kann? Sie würde hübsch aussehen, in irgendeinem weiten, schwarzen Kleid, das einzig und allein ihre dünne Taille betont. Sie werden sagen, dass es klar war, dass es so weit kommen musste. Sie werden es bedauern. Vielleicht gibt es Kuchen - dann würde Bonnie aber gehen.

Keiner von ihnen wird wissen, woran ich wirklich krepiert bin.
Nicht die Nieren.
Nicht das Untergewicht.
Nicht die Familienprobleme.
Sondern an herausgerissenem Herzen. Genommen, hingeworfen, drauf herum getreten, weggeworfen, wieder angelockt, gequält, zerstückelt, einzeln angebraten, verspeist. Ausgekotzt und irgendwo verkümmern lassen.

Ich weiß nicht einmal mehr, wie sich deine Finger auf meiner Haut angefühlt haben.



EDIT// entschuldigt alle wirren Antworten.
Irgendwie bin ich gerade nicht ganz bei mir.


Dienstag, 10. Juli 2012

Geschichten vom Scheitern sind einfach schöner.

Ich verstehe mich selbst nicht. Ich könnte glücklich sein.
Es geht voran, in ewig langsamen Schritten, aber voran. Ich habe jemanden gefunden, mit dem ich über alles reden kann, ich werde bald ein neues Leben beginnen, ich werde studieren, meine kleine Schwester ist stolz auf mich. Klingt das für euch nicht auch so, als wäre ich von allen Seiten ausreichend bedient? Wenn ich es so aufliste, tut es das für mich auch. Ich habe alles, was ich brauche.

Warum fühlt es sich dann so falsch an? Warum kann ich nachts nicht schlafen, warum werfe ich mich stattdessen umher? Warum kann nichts, was ich tue, mich wirklich ablenken? Warum stopft das Essen, das Gott weiß warum einfach nicht zur Gewohnheit werden will, nicht auch dieses Loch in mir? Woher kommt diese Leere, die mich tiefer schweigen lässt, als jeder Tote es tut - die mich verzweifeln lässt.
Wer hat es wirklich verdient?
Menschen, die ihr Glück zu schätzen wissen würden. Dazu gehöre ich wohl nicht.
Es gibt so viele Menschen, die jemanden bräuchten, der sie auffängt. Ich lese ständig von ihnen, von ihren Blogs, von ihren Geschichten. Wie viel davon Wahrheit oder Lüge ist, weiß ich nicht - aber ich weiß, dass irgendwas in ihnen fehlt. Niemand findet solche Worte, wenn sie auf einem Gerüst von Lügen und Lächeln aufgebaut sind. 
Und diese Menschen sollten belohnt werden, dafür, dass sie sich nicht immer in Sicherheit wiegen, ohne es zu sein, sondern immer kämpfen, obwohl ihre Zeichen dauerhaft auf Sturm stehen.
Ich habe dieses Rauf und Runter so satt.

Ich fühle mich kranker als mit nur 45 Kilogramm auf den Rippen. Ich kann so nicht mehr weiter machen.
Gebt mir mein falsches, hässliches, einsames, dürres, wundervoll unglückliches Leben zurück.

Schenkt das Glück doch jemandem, der es wirklich verdient.





Warum rufst du nicht an.
Cilli.
Warum rufst du nicht an.

Dienstag, 3. Juli 2012

Komm, wir nehmen uns das Leben.

Ein Klicken des Türschlosses verrät mir, dass Clarisse gerade aus dem Bad gekommen ist. Unauffällig mache ich mich auf, in das Badezimmer zu kommen, und als ich erst einmal angekommen bin, die Tür hinter mir zu gemacht und abgeschlossen habe, komme ich mir seltsam vor. So bedacht darauf, dass niemand hierbei bemerkt, war ich noch nie. Jeder meiner Familie, der mich dabei sieht, könnte ja auch denken, dass ich einfach nur die Toilette gehen möchte. Aber ich bin nicht hier, um irgendwelche niederen menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Mein Blick huscht zur Waage, die unschuldig auf dem Boden steht. Obwohl mich niemand sieht, versuche ich, das Zittern meiner Hände zu verbergen.
Bei meinem zweiten Mal in der Klinik - meine Entlassung ist jetzt drei Tage her - haben sie mir eingebläut, wie wichtig es ist, dass ich mein Gewicht im Auge behalte. Es sei untypisch für meine Art von Krankheit, dass ich die Kontrolle bisher komplett vernachlässigt habe, aber genau darin sehen die Ärzte wohl auch meine Chance, aus dieser Situation heraus zu kommen.
Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, mich mindestens ein Mal pro Tag auf das Gerät zu stellen, das ich früher mehr gefürchtet habe, als alles andere. Ich atme tief aus, schließe die Augen und mache den Schritt nach vorne. Eine Weile lang herrscht Stille im Bad, dann ein leises Piepen. Ich steige blind von der Waage, halte die Luft an und - 50,5 Kilogramm.

Bonnie und ich schlendern Seite an Seite durch die Fußgängerzone. Sie sucht nach Sonnenbrillen und Gummistiefeln, sie wird bald einige Festivals in der Gegend besuchen und will bestmöglich vorbereitet sein. Ich lächle still vor mich hin, während sie beinahe pausenlos von irgendwelchem belanglosem Zeug redet. Wir verbringen noch so viel Zeit miteinander, wie wir können, bevor ich mein Studium antreten werde.
Sie erzählt mir auch von ihren "Erfolgen", obwohl ich kaum hinhören kann und möchte. Es kommt mir jedes Mal falsch vor, diesem dürren Mädchen neben mir Anerkennung zu schenken, während sie noch mehr Gewicht verliert. In solchen Momenten fühle ich mich hilflos, weiß nicht, was ich tun kann, damit sie diesen Akt der Selbstzerstörung nicht weiter fortführen muss. Ich wünschte, ich könnte Bonnie helfen. Ich wünschte, ich könnte ihr irgendeinen Grund liefern, sich nicht weiter runter zu hungern.
Aber mir fällt keiner ein.

Ich erzähle ihr von meinen dazugewonnenen 500 Gramm seit der Klinik, sie lächelt mich breit an.
"Das ist super", meint sie schließlich, "wenn du so weiter machst, siehst du richtig gut aus, wenn du mit dem Studium anfängst. Dann kannst du dir da irgendein Mädchen aufreißen und ein normales Leben führen."
Ich grinse in mich hinein, diese Wortwahl ist für sie wieder typisch.
Aber dass ich neue Menschen kennen lernen werde, die meinen Untergang, mein Minimieren, meine Zusammenbrüche und meine Fehltage nicht miterlebt haben, stimmt mich irgendwie zuversichtlich. Dass ich weiter zu Bonnie Kontakt halten werde, weiß ich, sie ist wie ein festes Floß in den Strömungen eines neues Ozeans.
Hinter uns zerrt eine Mutter ihre junge Tochter vorbei. Sie wirft uns einen gehetzten Blick zu, als würde sie denken, dass das Magersuchtspärchen in der Reihe vor ihr auf ihr Fleisch und Blut abfärben könnte. Dabei sind Bonnie und ich kein Pärchen, wir sind eher Geschwister im Geiste. Leidensgenossen.
"Irgendwann führe ich das normale Leben, von dem du gesprochen hast", sage ich plötzlich. Dann wende ich meinen Blick zu ihr. "Und du auch."

Wir werden nicht um dieses Leben bitten. Wir werden darum kämpfen - selbst, wenn das wie in Bonnies Fall heißt, dass wir es vorher fast verlieren müssen. Aber wenn wir dann davor stehen, nehmen wir es uns einfach.
Weil wir alle das Recht dazu besitzen.

Sonntag, 1. Juli 2012

Das ist nicht aufgeben, das ist loslassen.

Wir sitzen uns gegenüber auf ihrem Fensterbrett, atmen die heiße Sommerluft und lassen uns die Brisen der stinkenden Stadt durch die Haare fahren. Ich schließe die Augen und lehne meinen Kopf an das heiße Gebäude, spüre die Sonne direkt in meinem Gesicht. Einen Moment lauschte ich dem Lärm der Autos, die unter uns vorbeifahren, versinke in dem Geräusch, nehme es kaum noch war. Ich stelle mir vor, ich würde auf meinem Boot über das glatte Wasser segeln, frei von allem, fern ab von der Bedrängnis der Stadt - einfach nur das Wasser unter und der Himmel über mir. Diese Einsamkeit, die ich schon so lange nicht mehr genießen konnte, weil die Gefahr besteht, dass ich jeden Moment abklappen könnte.
Mein Boot wurde verkauft, als wir wegzogen, und ich frage mich, ob die neuen Besitzer nun gerade in diesem Moment damit über die Wellen gleiten.

Als ich die Augen aufmache, sehe ich Bonnie an, die ihren matten Blick über die Dächer der Häuser schweifen lässt. Wir sind in der kleinen Wohnung, die sie sich mit ihrer Mutter und dessen Freund teilt. Die Mutter habe ich kennen lernen dürfen, als ich ihr die Hand hingehalten habe, hat sie nur verächtlich geschnaubt. Ich weiß, was sie denkt - dass Bonnie jetzt einen Gleichgesinnten gefunden, hat, einen, der auch nur Haut und Knochen ist. Hier zu leben ist kaum ein Zustand, ich fange an, mir darüber bewusst zu werden, dass ich mit meiner ignoranten Mutter wohl das bessere Los gezogen habe, als sie mit ihrer. Bonnies Mutter scheint sie dafür zu hassen, dass sie so ist. Meine redet es einfach über.
Bonnie sagte, dass sie die Klinik schön findet, und ich begreife nun, warum.

"Drei Kilo noch", meint sie plötzlich und sieht mich kurz an, "drei Kilo und sie behalten mich die nächsten Monate komplett da. Dann komm ich raus aus diesem Loch hier."
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Bonnie davon abzubringen, ihren ohnehin schon zerstörten Körper noch weiter zu ruinieren, habe ich versucht - und bin auf eine verzweifelte, flehende Seite von ihr gestoßen, mit der ich nicht umgehen konnte. Ich will dieses starke, selbstbewusste Mädchen nicht noch mal so am Boden sehen. Also sage ich einfach nichts.
"Es wird einsam ohne dich, Clyde."
So nennt sie mich jetzt doch - alles nur, weil ich ihr nicht von Anfang an geglaubt habe. Dass ich bald wieder wegziehe, dass ich eine neue Psychiaterin bekommen werde, all das weiß Bonnie schon. Es gefällt ihr genau so wenig wie mir, wo wir beide doch gerade erst einander gefunden und angefangen zu vertrauen haben.
"Ich verspreche dir, dass du mich jederzeit anrufen kannst", antworte ich nur.

Und das meine ich auch so.
Ich werde Bonnie niemals so hinhalten, wie Cilli mich. Damals. Scheint so lange her zu sein. Ich werde kein Schemen für sie sein, sondern fassbar, anwesend, bereit. Ich blicke in die Sonne und muss lächeln.
Die Freude auf mein neues Leben wird schon wieder von einem bitteren Schatten verhängt, irgendwie ironisch.

Nur dieses Mal werde ich damit umgehen können. Wir beide werden.
Wir sind bereit, etwas an uns aufzugeben, um glücklicher zu sein.

Mittwoch, 20. Juni 2012

Zwei Kugeln Magersucht in einer Waffel, danke.

Nicht schon wieder. Bitte. Ich kann nicht - ich kann das einfach nicht noch mal durchstehen.
Mein Blick ist bittend, nein, flehend, doch meine Psychiaterin schüttelt nur leicht den Kopf. Sie flüstert mir zu, dass es ihr Leid tut, aber ehrlich gesagt bringt mir das herzlich wenig. Dabei ist es nicht so, dass es mich überrascht hätte - sie hatte ja bereits Andeutungen gemacht, dass ich wieder in die Klinik muss. Dummerweise habe ich mir Hoffnungen gemacht, es irgendwie abwenden zu können. Dumme, falsche Hoffnungen, wie sich jetzt herausstellt.
Den Weg von ihrem Sprechzimmer bis zum Ausgang gehe ich wie in Trance, sehe mich schon wieder meine Sachen packen, sehe das teilnahmslose Gesicht meiner Mutter vor mir, spüre schon jetzt den enttäuschten, verletzten Blick Lettys aus mir liegen. Rechts und links türmen sich die Flurwände auf, als würden sie gleich über mir zusammenbrechen wie tosende Wellen. Am liebsten würde ich mich irgendwo einkringeln.
Ich kann das nicht noch mal.

Hinter mir dröhnt irgendeine Stimme, die ich in meinem Loch aus Selbstmitleid ausblenden konnte. Doch sie wird Schritt für Schritt, den ich mich nach vorne schleppe, lauter. Bis ich sie nicht mehr ignorieren kann, bis ich das erste Mal richtig verstehe, was sie sagt. Es ist eine Mädchenstimme.
"Ey! EY! CLYDE!"
Ich drehe mich um und sehe das spitze Gesicht des Mädchens, das ich vor ein paar Tagen vor genau diesem Gebäude zum ersten Mal sah, näher kommen. Sie hört auf zu rennen, sie grinst.
"Wusste ich doch, dass du nich' wirklich Clyde heißt", raunzte sie mich an. Sie hat ihr braunes Haar schon wieder zu einem Zopf geflochten. Ich zucke wage die Achseln. "Hast du Bock auf 'n Eis?"
Eis? Jetzt? Irgendwie macht sie mich ziemlich sprachlos, die Gute.

Wir sitzen nebeneinander in der Fußgängerzone. Bonnie - die tatsächlich Bonnie heißt - verhindert gerade, dass ihr Eis, irgendeine Fruchtsorte, ihr von der Waffel über die Finger läuft. Meines ist in seinem Becher bereits zu einer undefinierbaren Suppe geschmolzen. Während sie die vorbeilaufenden Passanten beobachtet, mustere ich sie. Ich habe schon oft dünne Mädchen gesehen, aber Bonnie - Bonnie ist einfach unglaublich dürr. Vermutlich könnte ich meine Hand ohne weiteres um ihre beiden Oberarme schließen. Anstatt sich um mich zu kümmern, fängt sie die Blick einiger vorbeilaufender Teenagerjungs auf, von denen einer verstohlen auf uns zeigt. Auf uns, die Klappergestelle.
"Alter, hier gibt's nix zu glotzen!", schnauzt Bonnie ihn an, und sie gehen schnell weiter.
Unwirsch wendet sie sich zu mir. "Du starrst aber auch ganz schön, Niccilein."
Ich runzele die Stirn. Niccilein? Na wunderbar. Bevor ich irgendwas antworten kann, seufzt sie theatralisch.
"Keine Sorge, ich darf nächste Woche wieder in die Klinik. Danach geht's meistens wieder."
"Darf?", wiederhole ich überrascht. Ich habe das nie als etwas besonders erstrebenswertes gesehen - eher als Armutszeugnis.
"Klar darf. Die Klinik ist doch irgendwie schön." Sie betrachtet den Rest ihres Eises, zuckt mit den Schultern und steht auf, um es wegzuwerfen.

Ich bleibe sitzen und starre ihr nach.
Irgendwie schön.

"Vielleicht sehen wir uns nächste Woche in der Klinik, weißt du?", meine ich wage, als sie wieder kommt. Einen Moment lang sieht sie überrascht aus, dann breitet sich ein echtes Lächeln auf ihren Lippen aus.
"Ehrlich?"
Ehrlich, weil ich es nämlich schon wieder verbockt habe. Ich elender Versager. Aber sie ja auch, und sie wirkt absolut nicht, wie eine Versagertype. Ehrlich, Bonnie.
"Ehrlich."

Donnerstag, 14. Juni 2012

Es ist jedes Mal für immer.

Liege auf dem Bett, wälze mich hin und her. Das Kissen ist schon nass. Tränen? Schweiß? Nur Fragezeichen in meinem Kopf. Ein Albtraum jagt den nächsten. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, die gleichen Bilder. Meine Arme jucken, ich kratze über die ohnehin schon raue Haut, bis sie anfängt zu bluten. Ich glaube, ich weiß, was das Kissen so feucht macht.
Die Nacht hinter meinen Lidern ist mir zu dunkel. Ich mache alle Lampen und Kerzen in meinem Zimmer an, doch hinter geschlossenen Augen ist es immer noch zu finster. Kein Ausweg, nirgends.
Etwas schnauft und schnaubt. Das Geräusch ist nicht zu ertragen, ich vergrabe meinen Kopf unter dem nassen Kissen, aber es wird nicht leiser. Ich bin es selbst. Ich bin der, der so heftig atmet.

Meine Eingeweide schmerzen vor Hunger, liegen verkrümmt irgendwo am Ende meines Körpers. Ich schüttle mich, als wollte ich meine Seele in mir klappern hören. Stürze Wasser durch meine trockene Kehle, bis ich das Gefühl habe, dass ich daran ertrinken müsse.
Ich reiße Schubladen auf und suche, suche nach alten Büchern, alten Heftern, alten Fotos. Nach Erinnerungen an andere Zeiten, die mir jetzt, so viele Jahre danach, wie glücklichere vorkommen. Lese Liebesbriefe, die nie abgeschickt wurden. Starre auf Gesichter, deren Lächeln auf den Fotos seltsam verschwommen aussieht. Romantisiere mir eine Welt, die eigentlich viel blinder ist, als ich zugeben will. Hänge alte Poster an die Wand, um sie wieder runter zu reißen. Will irgendwas zertrümmern und traue mich dann doch nicht, es zu tun. Schnaube, huste, heule.


Wo bist du? Warum bist du nicht hier?
Wie konnte es so weit kommen? Wer hat das zugelassen? Warum hat keiner versucht, uns aufzuhalten?
Wieso ist das alles nur passiert? An welchem Punkt unserer Geschichte konnten wir nicht mehr umdrehen? Was ist so schwer daran, mir zu sagen, dass alles gut wird?


ES IST SO VERDAMMT FINSTER.

Samstag, 9. Juni 2012

Was habt ihr von mir erwartet.

Blam. Schlag ins Gesicht.
Wann - und wie - ist das passiert? Wer hat zugelassen, dass es so weit kommt? Habe ich mich zu früh in Sicherheit gewogen? Meine Psychiaterin seufzt unglücklich, mustert mich für einen kurzen Moment - den Moment, den ich mich wieder fühle, als hätte mir jemand einen Strick um den Hals gewickelt und würde ihn langsam enger ziehen. Sie sagte, sie hätte sich das schon gedacht. Und dass wir jetzt zu anderen Maßnahmen greifen müssen.
Der Versuch, dass ich mich selbst langsam aber sicher heile, scheint gescheitert zu sein.
Versager.
Wieso wussten alle, dass es schlimmer wird - alle, außer mit selbst?

Die neue Vorgehensweise besteht darin, dass ich mich wiegen muss. Jeden Tag zwei Mal, morgens und abends. Ich schäme mich nicht, zu sagen, dass ich Angst vor der Waage habe. Das letzte Mal stand ich freiwillig darauf, lange bevor ich eine Woche in die Klinik musste. Wenn ich an sie denke, male ich mir hundert Sachen aus, die ich tun würde, um mir nicht mein Gewicht vor Augen führen zu lassen. Ich will es nicht sehen - will nicht sehen, wie mein Körper langsam aber sicher zerfällt, nur weil ich zu dumm und unselbstständig bin, für ihn zu sorgen. Wenn mein BMI wieder unter die 13 fällt, muss ich zurück in die Klinik - das heißt, ab jetzt wird alles dafür getan, damit genau das nicht passiert. Meine Psychiaterin scheint entschlossen, mir zu helfen - eine einzige, gute Seele, irgendwo zwischen dem Meer aus ausdruckslosen Gesichtern.

Als ich aus dem Gebäude komme, stoße ich mit einem Mädchen zusammen. Viel zu vergraben in dem ekelhaftesten Gefühl aller Zeiten - Selbstmitleid - registriere ich sie erst, als es schon viel zu spät ist. Ihre Tasche scheint aufgerissen zu sein, sie fängt an, mich grob zu beschimpfen. 
Ich murmele eine Entschuldigung, helfe ihr halbherzig, ihre Sachen wieder aufzusammeln.
"Kommst du gerade von der M.?", will sie plötzlich wissen, spuckt den Namen meiner Psychiaterin auf die Pflastersteine unter uns wie einen längst geschmacklosen Kaugummi. Jetzt sehe ich sie erst richtig an - dunkelbraunes Haar; zu einem unordentlichen Zopf geflochten, dünne Arme, weiter Rock, helle Augen; beinahe gelb. Sie hat etwas von einem Adler, während sie mich mit ihrem scharfen Blick durchlöchert, und unguter Weise habe ich sofort das Gefühl, dass sie einer dieser Menschen ist, die augenblicklich alles über mich wissen.
Also nicke ich nur stumm. Wir sehen eine Weile einander an, dann zuckt sie die Schultern und will gehen.

"Warte - wie heißt du?"
Es ist mir rausgerutscht. Ihr triumphaler Gesichtsausdruck und das Grinsen auf ihren blassen Lippen, als sie sich umdreht, machen mir deutlich, dass sie darauf nur gewartet hat.
"Bonnie. ...du?"
Na klar. Bonnie. Ich runzelte ärgerlich die Stirn - verarschen kann ich mich eigentlich selber. 
"Clyde", gebe ich zurück. 
Ihr Grinsen wird breiter - meins leider auch. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren huscht sie davon.

Und lässt mich alleine. Dort, wo ich drohe, in Verzweiflung zu ertrinken.
Für einen Moment war die Welt ein bisschen weniger dunkel gewesen.

Freitag, 1. Juni 2012

Ein Schritt nach dem Anderen.

Ich bin auf dem Rückweg von meiner Stunde mit der Psychologin, die ich jetzt vier Mal in der Woche sehe. Ich glaube, das ist in Ordnung, es hätte mich schlimmer treffen können. Das Gefühl, dass es so hilfreich wie Vorträge über natriumarmes Mineralwasser sind, werde ich trotzdem nicht los. Es ist nicht so, dass ich sie nicht leiden kann - sie hört wunderbar zu, wenn sie erstmal aufhört, selber zu reden. Ich komme gut mit ihr aus, anders, als mit meiner Ärztin. Aber etwas steht noch zwischen uns.
Wenn ich nur wüsste, was - dann könnte ich uns beiden besser helfen.
Auf dem Rückweg zur Wohnung komme ich an der Straße vorbei, die man entlangwandern muss, um zu dem Berg zu kommen. Meinem Berg (alle, die nicht wissen, wovon ich rede, sollten sich diesen Eintrag durchlesen). Für einen Moment bleibe ich stehen, frage mich, ob es dumm wäre, jetzt schon zu versuchen, ihn rauf zu rennen.
Ich ziehe die Schultern hoch, wende mich ab und gehe nach Hause.
Für einen Moment bin ich der hoffnungsloseste Mensch in der ganzen Stadt.

Aber irgendwas hat es in mir wach gerüttelt. Man kann mich jetzt für verrückt halten - wie kann ein einziger Blick auf eine Straße an einem ganz normalen Tag jemanden so verändern? Ich weiß es nicht. Und vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, gut möglich.
Dennoch ist mir so, als hätte der Ablick des Berges, den ich fast vergessen hatte, etwas in mir wach gerüttelt. Als hätte er mich an mein Versprechen erinnert.
Daheim koche ich Letty und mir etwas zum Mittag, sie guckt mich zuerst leicht ungläubig an - vermutlich weiß sie auch nicht mehr, wann ich das das letzte Mal gemacht habe. Wir essen, ohne viel zu reden, ich spüle danach das Geschirr. Mein Bauch, der sonst immer so leer ist, fühlt sich... normal an. Ich betrachte ihn, nur so von oben herab, ganz unauffällig. Normal ist plötzlich ein ziemlich schönes Gefühl. Beim Händewaschen überlege ich mir, jetzt auf die Waage zu steigen - lasse es dann aber doch bleiben. Ich erinnere mich daran, es langsam angehen zu lassen.

Gegen Abend spiele ich mit meiner kleinen Schwester Scrabble. Als sie zu Bett geht, lese ich ein wenig, gehe irgendwann an den Computer. Google nach Sport, den ich machen könnte, ohne, dass meine Ärztin es bemerkt, und finde nichts.
Lese mir eure Kommentare durch.
Bin glücklich, glaube ich.



Dienstag, 29. Mai 2012

Familienfressen.

Jeder sitzt auf seinem Stuhl, alle nebeneinander und hübsch um den Tisch drapiert. Vor uns - ein riesen Berg Essen. Wenn ich riesig sage, meine ich es auch - er ist gigantisch. Wann ich das letzte Mal so viel Nahrung auf einem Haufen gesehen habe, weiß ich nicht mehr genau, aber ich bin sicher, dass es im Fernseher war. Während ich mich noch frage, woher eigentlich das ganze Geld für die anstehende Völlerei stammt, fängt der Rest schon an, sich Essen auf die Teller zu schaufeln. Ich blinzle ein paar Mal unschuldig, greife langsam zu der Platte (- sagt schon alles, oder? Platte. Hatten wir dieses Geschirr schon immer?) mit den gefüllten Paprikas und bugsiere die kleinste davon auf meinen Teller. Anschließend werde ich einen verstohlenen Blick zu Letty, doch die ist mit ihren Kroketten beschäftigt. Fettige, ekelhafte Kroketten. Ich unterdrücke einen Schauer.

Meine anschließende Analyse der am Tisch sitzenden Personen tarne ich als ausschweifenden Blick über das, was es außer gefüllten Paprikaschoten noch im Angebot gibt. Rechts von mir sitzt meine kleine Schwester, sich unbekümmert das ungesündeste Zeug auf ihren Teller ladend. Daneben meine Mutter, die gerade an ihrem Weinglas nippt und mit aller Mühe versucht, meinem Blick auszuweichen. Ihr gegenüber sitzt Adelie, die sich von ihrer Mutter - daneben - gerade Bohnen auffüllen lässt. Es ist faszinierend zu sehen, wie sie kurz darauf zu ihrer Gabel greift und das Gemüse ohne Erbarmen in ihren Schlund stopft. Mein Mund wird ganz trocken, irgendwann reiße ich mich von dem Anblick los und sehe Clarisse zu, wie sie ihr Stück Fleisch anschneidet und prüft, ob es gar ist. Sie bemerkt, dass ich ihr dabei zusehe, eine Falte tritt zwischen ihre Brauen. Gedankenlos schneidet sie ein Stück ab und hält es, auf ihre Gabel gespießt, zu mir herüber. So abrupt das geschieht, starre ich es entsetzt an, bis ich bemerke, dass Clarisse mich angesprochen hat.
"Willst du mal probieren?!"

Probieren. Ich. Das da.
Mir kommt es beinahe schon wieder hoch.
"Ich- nein!", würge ich irgendwie hervor, dann springe ich von meinem Platz und stürme zur Toilette, den Gestank des toten, gekochten Tieres noch immer in der Nase.

Als ich wiederkomme, haben sie bereits mit dem Nachtisch angefangen. Clarisse springt sofort auf, als sie mich sieht, und entschuldigt sich heftig. Sie hätte vergessen, dass ich kein Fleisch esse. Ich winke ab, ich bin zu müde um ihr zu sagen, dass ich sie für eine elende, provokante Lügnerin halte. Statt mir den Bauch voll schlagen zu müssen, kann ich die Völlerei überspringen und zusehen, wie sie ihren Kuchen vernichten. Schließlich ist es Adelie, die mir in den Rücken fällt - "Nic, willste nich' auch noch Kuch'n?".
Ich tue so, als wäre es kein Problem, lasse mir ein Stück von der Käsetorte abschneiden und stochere darin herum. Als ich mich schließlich dazu überredet habe, auch mal anzufangen, zu essen, kommt es mir vor, als würde ich auf einem alten Teppich herum kauen.

Als keiner hinsieht, schmeiße ich den Rest meiner Portion in den Müll und begrabe sie unter zwei Taschentüchern.
Morgen, das weiß ich, wird meine Psychiologin über mir verzweifeln.

Freitag, 25. Mai 2012

Bitte lüg' mich an.

Sie ist es.
Es genügen die ersten zwei Sekunden, nachdem ich den Hörer abgenommen habe, um zu wissen, wer da angerufen hat. Es ist nur ihr Atmen allein, die kurze Pause, die sie macht, nachdem ich meinen Namen in die Muschel spreche und auf eine Antwort warte. Ich warte - auf irgendwas, irgendeinen Laut von ihrer Seite, doch sie bleibt stumm. Nachdem wir uns eine Weile nur anschweigen, frage ich sie, warum sie überhaupt anruft, wenn sie mir nichts zu sagen hat.

Cilli macht mir keinen Vorwurf, dass ich in die Geschlossene gehen musste. Sie sagt, ich tue das Richtige, und wenn ich nichts esse, dann ist das wohl das Richtige für mich. Ich muss die Stirn runzeln über so viel grundloses Vertrauen, das sie von einem Moment zum anderen in mich zu haben scheint, aber lange kann ich mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Plötzlich fängt sie an zu wimmern.
Sie sagt, dass es ihr Leid tut. Ich vergewissere mich, dass meine Tür fest geschlossen ist - wegen meiner kleinen Schwester - , dann fange ich an, sie zu beschwichtigen. Warum denkt dieses dumme, dumme Mädchen denn nur, dass es ihre Schuld ist? Es ist doch meine eigene!
Dass ich sie hätte anrufen sollen, schluchzt sie in den Hörer, dass ich ihr hätte sagen müssen, dass ich nicht daheim bin. Ich versuche, sie irgendwie zu beruhigen - ich habe ihre Nummer doch nicht. Sie ruft doch immer unterdrückt an. Ich weiß ja nicht mal, wo sie gerade ist! Wie hätte ich ihr denn Bescheid sagen können, selbst, wenn ich es gewollt hätte?

"Wo bist du", frage ich die ewige Frage, tonlos.
"Ich hab dich gebraucht, Nic, scheiße!", zischt sie zurück, und plötzlich scheint sie weniger aufgelöst, sondern eher wütend, "und dann geht deine Schwester an das Telefon und erzählt mir, dass du in der Klapse bist! Wie soll ich mich da bitte fühlen, du Idiot?"
Weiß ich nicht.
Aber dass ich ein Idiot bin, dass weiß ich jetzt. Letty hat Recht gehabt, ich hätte auf sie hören sollen, ich hätte nicht weiter mit Cilli reden sollen, ich hätte - "Tut mir Leid. Wirklich."
Obwohl ich weiß, dass es falsch ist, bin ich dermaßen erleichtert, als sie "schon gut" zurückflüstert.
Sie hat mir vergeben. Schon wieder.

Von meiner Nierenkrankheit weiß sie nichts - ich habe es erfolgreich geschafft, ihr schon fast fünf Monate nichts davon zu erzählen. Ich sage ihr, dass es mir gut geht. Dass ich da sein werde, wenn sie anruft. Dass ich wieder ordentliche esse - dass ich abhebe, wenn sie mich braucht.
Sie sagt mir, dass sie mich vielleicht bald mal wieder besuchen kommt.

Wir sind so gute, bittere, verzweifelte Lügner.

Mittwoch, 23. Mai 2012

Täglich wenn die Nacht anbricht.

Ich liege mit weit geöffneten Augen im Bett, kann nichts schmecken, kann nichts sehen. Die Stille liegt finster und bedrückend auf meinen Ohren, ich erfahre mal wieder, wie unglaublich laut leise sein kann. Mein Mund ist staubtrocken, als hätte ich das letzte Mal vor Wochen etwas getrunken. Blind taste ich nach der Wasserflasche an meinem Bett, würge ein paar Schlucke herunter. Es ist nicht die Hitze, die mich so erdrückt, sondern die Last meiner Gedanken. Gegen die allumfassende Wärme kann man etwas unternehmen - abends kalt duschen, die Fenster auf Durchzug öffnen, nackt schlafen.
Aber was tut man, wenn die eigenen Gefühle einen zur schieren Verzweiflung bringen? Mein Magen rumort, ich bilde mir ein, dass es ein Verdauungsgeräusch ist, kein dumpfer Schrei nach Futter. Eine Weile wälze mich nach links, werfe mir wieder und wieder Tatsachen vor, denke an meine Stunden bei der Therapeutin, die ich jetzt öfter sehe, als mir eigentlich lieb ist.

Es ist zu deinem Besten, Nic - das sagen sie immer, alle. Teilweise scheinen sie schon vergessen zu haben, dass ich der chronisch nierenkranke Junge bin, denn irgendwie scheinen herausstechende Knochen plötzlich wichtiger zu sein, als ein sich langsam von innen vergiftender Körper. Schön! Wann war denn auch mal das Äußerliche eines Menschen unwichtiger als das, was in ihm drin vorgeht?
Obwohl es ungerecht ist, das zu behaupten, schließlich ist meine Pyschiaterin ja genau dafür da - um mir selbst zu zeigen, wie es in mir aussieht. Und warum. Und warum auch ich zu diesen Menschen gehöre, die es viel wichtiger finden, dass sie dünn sind, als dass sie tatsächlich krank sind.
Ich wälze mich nach rechts, es ist jede Nacht das gleiche.

Also stehe ich doch auf, schleppe mich zum Computer, schalte ihn an und lese, was ihr mir schreibt. Lese, wie es anderen geht, schwinge große Reden, mache mich wichtig.
Mache euch euch selber wieder wichtig.
Ihr seid wichtig.

Achja.
Und ich wollte mich für BELLA freuen. Dass sie wieder da ist, irgendwie.
Und dass es ihr bald wieder besser geht, hoffentlich.

Freitag, 18. Mai 2012

Acht Stimmen für Entwürdigend.

Bevor ich gegangen bin, habe ich eine kleine Umfrage erstellt - um zu sehen, was ihr darüber denkt, wie es ist, in einer Einrichtung zum Essen gezwungen zu werden. Vielleicht wollte ich mich damit beruhigen, ich weiß es nicht mehr genau. Ich beantworte mir die Frage erst, als ich schon wieder zurück bin - und gebe damit der Möglichkeit meine Stimme, die die meisten von euch angeklickt hatten - "Entwürdigend".
Ja, denn genau das war es - es hat mich schwach aussehen lassen, mich mich gebrechlich fühlen lassen, als wäre ich jemand, den man durchfüttern muss, den man zum Essen zwingen muss, weil er selbst zu unvernünftig ist, es zu tun. Weil er sonst verweigert.
Das Schlimme daran war - es entspricht der Wahrheit.

Für mich war allerdings ein weiteres Problem, dass ich weder Fleisch, noch andere Produkte von Tieren esse. Zunächst einmal wollte man mir weiß machen, dass das eine ungesunde Lebensweise sei, die ich auf Dauer nicht aufrecht erhalten sollte und darf. Tatsächlich verlangte man von mir, dass ich nicht nur Eier esse und Milch trinke - was ich ja im Entferntesten noch irgendwie nachvollziehen kann - sondern auch Fleisch zu mir nehme.
Während ich diese Zeilen schreibe, werde ich wieder wütend. Wie konnten diese Menschen es nur wagen, mir vorzuschreiben, was ich zu essen habe? Dort zu sein war schon Qual genug - warum mir jetzt auch noch erklären wollen, dass meine Prinzipien nur Auswüchse jugendlichen Eifers, die Welt retten zu wollen, seien?
Ja, ich sehe ein, dass ich essen muss.
Aber nicht, dass man mir vorschreiben kann, was. 


Das erste Mal wieder Fleisch zu essen, ist so ziemlich das ekelhafteste, was ich bisher erlebt habe. Augenblicklich muss ich mich übergeben, und das nicht, weil ich gewollt hätte. Der Gestank, der Gedanke daran, etwas zwischen den Zähnen zu haben, das mal gelebt hat... es geht mir in diesem Moment nicht um mein Gewicht, sondern um meine Überzeugungen. Meine Betreuerin ist entsetzt, ruft Arzt und Psychiater.
Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen, als ich ihnen versuche zu erklären, dass ich verstanden habe, dass ich zunehmen muss. "Ja! Ich weiß es doch!", rufe ich schließlich verzweifelt, als sie zum dritten Mal ansetzten. Sie sollen mir zuhören, verdammt!
Es geht nicht um die Tatsache, zu essen, es geht darum, dass es mir die Galle hochtreibt, ein Tier zu zerkauen!

Irgendwann haben sie es übrigens verstanden.
Irgendwann einigen wir uns darauf, dass ich zumindest in meiner Phase, in der ich lebensbedrohlich unterernährt bin, nur vegetarisch statt vegan leben darf.

"Darf".
Es ist so entwürdigend, zu wissen, dass ich überhaupt erst einen Kompromiss eingehen musste.

Dienstag, 15. Mai 2012

Wie Hänsel seiner Gretel nachlief.

Nachdem ich irgendwann gestern Nacht von einem meiner ziellosen Spaziergänge zurück zur Wohnung gekommen bin, war Letty bereits in ihrem Bett gewesen. Ob sie geschlafen hat, weiß ich nicht - ich zumindest habe noch Ewigkeiten wach gelegen. Eigentlich streiten meine kleine Schwester und ich uns nie. Sie ist nicht wie gewöhnliche Zwölfjährige. Letty ist sonderbegabt, schon in der neunten Klasse und wirklich unglaublich vernünftig. Manchmal kommt es mir vor, als hätten sie und meine Mutter, die leider in vielen Punkten als eine solche versagt, Rollen getauscht. Letty ließt keine Kinderbücher, sondern Fremdwörterduden. Letty spielt nicht mit Kuscheltieren, sondern näht sich selbst Klamotten. Es ist wirklich erstaunlich, was dieses Mädchen alles kann.

Genau so gut kann sie in mich hineinsehen. Ich wage zu behaupten, dass es keinen Menschen auf der Welt gibt, nicht einmal meine Exfreundin, die mich so gut versteht, wie sie. Dabei müssen wir nicht viel miteinander reden - wir tuen es, natürlich, aber es ist im Grund genommen unnötig. Wir verstehen uns blind.
Vielleicht wusste ich deshalb, dass sie mir etwas verheimlicht hatte, seit ich wieder da war. Als sie dann in mein Zimmer kam und mir gestand, was sie in meiner Abwesenheit getan hatte, traf es mich also nur halbwegs unvorbereitet.
Noch nie habe ich die Entscheidung meiner kleinen Schwester so angezweifelt, wie jetzt. Beim Aufstehen überlege ich immer noch, ob ich dankbar oder wütend sein soll. Auf der einen Seite hat sie mich vielleicht von meinem ewig währenden Elend erlöst - hat vielleicht dafür gesorgt, dass Cilli nie wieder anruft und ich sie irgendwann vergessen kann.
Aber das will ich eigentlich nicht. Diesem Mädchen bin ich bedingungslos verfallen, ich würde alles für sie tun, deshalb lasse ich mich von ihr hinhalten, deshalb lasse ich mit mir spielen. Es ist kein schönes Spiel, aber erträglich, wenn ich weiß, dass sie dadurch zufriedener wird. Wenn ich weiß, dass ich dadurch in ihren Gedanken und in ihrem Herzen bleibe, egal, wo wir sind. Sie gibt mir das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden.
Ob Cilli mich liebt, weiß ich nicht. Und ich weiß nicht, ob das, was ich für sie empfinde, Liebe ist.

Aber dass ich Letty liebe, dessen bin ich mir sicher. Als ich in die Küche komme, sitzt sie dort, vor ihr eine Scheibe Brot, die sie gerade essen will. Ich nehme ihr gegenüber Platz, doch sie steht auf und räumt ihre Sachen weg. Bevor sie geht, bleibt sie plötzlich im Türrahmen stehen. Ihre Stimme klingt tonlos, als sie mich fragt, warum ich sie nicht aufhalte. Ich zucke nur mit den Schultern. Ich wollte mich ihr nicht aufdrängen.
Letty dreht sich zu mir um, unter ihrem Blick wird mir unbehaglich. Minutenlang starren wir einander an, dann entschuldige ich mich schließlich dafür, dass ich sie nach ihrer Beichte hab stehen lassen. Ich sage ihr, dass meine Reaktion zu heftig war, und sie nickt kühl.
Sie nimmt meine Entschuldigung an - aber verzeihen wird sie mir erst, wenn ich tatsächlich nie wieder mit Cilli rede. Das muss sie nicht sagen, aber es ist klar, als die Tür ihres Zimmers hinter ihr ins Schloss fällt.
Ich senke den Blick und starre auf mein Frühstück.
Mir ist der Appetit vergangen.

Ich kann mich noch nicht zwischen meiner Schwester, meiner Sehnsucht und dem Tod entscheiden.

Sonntag, 13. Mai 2012

Wie ein Schlag ins Fensterglas.

Natürlich hätte ich vorher schon wissen müssen, dass ich nicht ganz ungeschoren davon kommen kann. Ich sitze ahnungslos an meinem Fenster, die Knie angezogen, den Blick nach draußen gewandt und schaue dem Sturm dabei zu, wie er in den Baumkronen wühlt. Es ist aufreibend und beruhigend zugleich, und immer wieder versuche ich, zwischen dem heftigen Sturm da draußen und meinem Leben in mir drinnen keine Parallelen zu ziehen - aber es geht einfach nicht. Da ist zu viel Vergleichbares, zu viel, das zueinander passt.
Ich denke mir gerade, dass sich der Wind zumindest etwas gelegt hat, seit ich wieder zu Hause bin, da klopft es an der Tür. Es ist weniger der Umstand, dass es sich bei der hereinkommenden Person um Letty handelt, der mich beunruhigt, als dass sie angeklopft hat.
Sie hat auf meine Erlaubnis gewartet, sie hat gezögert. Das hat sie vorher nie gemacht - vorher, bevor man mich für eine Woche von ihr weggesperrt hat. Ich sollte es natürlich positiv sehen - dass sie meine Privatsphäre respektieren will. Dass sie mich nicht überraschen will. Dass sie höflich sein will.
Aber wie viel höfliche Zurückhaltung verträgt eine Zwölfjährige, die eigentlich sorglos in mein Zimmer platzen sollte, laut lachend und ohne mögliche Angst davor, dass sie mir mit etwas, das sie tut, schaden könnte? Ich sehe sie an, ich weiß sofort, dass sie etwas bedrückt.
Es mag egoistisch klingen, aber ich bin mir sicher, dass es mich betrifft.
Ich mache die Kindheit meiner kleinen Schwester mit jedem Tag kaputter.

Letty weiß, dass ich noch an Cilli hänge. Sie weiß, dass die mich immer wieder hinhält, und sie findet, ich sollte dieses Mädchen vergessen. Das finde ich auch. Und ich kann nicht. Und ich finde es genau so furchtbar wie sie, dass ich ihr nicht sagen kann, wie sehr es mich aufregt, dass sie für mich weiterhin wie ein Phantom bleibt.
Wenn Cilli mich anruft, dann unterdrückt. Dann so, dass ich nie antworten könnte.
Sie hat mich vollkommen unter ihrer Kontrolle, ist gleichzeitig aber unerreichbar für mich - und mir ist alles, sogar das, lieber, als wenn ich nie mehr mit ihr reden dürfte.

Das Gefühl ist vergleichbar mit dem, wenn man ein Knie in die Magengegend gestoßen bekommt. Sekundenlang wage ich es nicht zu atmen, zu blinzeln. Was Letty mir beichtet, bestätigt genau das, was ich bereits befürchtet hatte. Dabei hatte ich so darum gefleht, dass es nicht passiert!
Cilli hat angerufen, während ich eine Woche fort war. Tonlos schaffe ich es, zu fragen, was Letty ihr gesagt hat. Sie blickt mich gequält an. "Die Wahrheit", bringt sie irgendwie hervor, und plötzlich habe ich das irrsinnige Bedürfnis, irgendwas irgendwo runter zu werfen.
"Und ich hab' ihr gesagt, dass sie dich in Ruhe lassen soll, verdammt!", höre ich noch, bevor ich aus der Wohnung gestürmt bin.

Wo ist vorne, wo ist hinten? Ich kann so schwer mit mir selber leben.
Wer ist jetzt der oder die Böse - meine Schwester, die mir nur helfen will? Das Mädchen, dem ich verfallen bin?
Am einfachsten ist es, sich selbst zu verurteilen.

Die stärkste Liebe ist immer die, die nicht erwidert wird.

Freitag, 11. Mai 2012

Alles beim Alten, nichts wie's mal war.

Als ich aufschließe und einen Schritt in die Wohnung mache, ist es für einen Moment ungewöhnlich still. Ich zerre meine Tasche hinter mir her, bis sie auf dem Flur liegt. Sie sieht ausgebeult und ein bisschen mitgenommen aus, in etwa so, wie ich mich fühle. Plötzlich springt die Tür rechts von mir auf, Letty stürmt aus ihrem Zimmer und wirft sich mir um den Hals, irgendwas kreischend. Ich muss einen Schritt rückwärts machen, um ihr Gewicht halten zu können. Als sie mich nicht loslässt, klammere ich mich mit einer Hand am Türrahmen fest, um nicht umzukippen.
Ist sie schwerer geworden - oder ich einfach schwächer? Es ist zum Jagen, dass mir in so einem, eigentlich so schönen Augenblick solche Gedanken durch den Kopf gehen. Ich bin wieder zu Hause! - das heißt, zumindest an dem Ort, der noch für zwei, drei Monate mein Zuhause sein soll. Ich sollte mich freuen! Ich grinse ein wenig vor mich hin, meine kleine Schwester im Arm.
Clarisse kommt aus der Küche, sie lächelt wohlwollend. Es ist seltsam, ich habe schon fast vergessen, Clarisse lächeln zu sehen. Meine Mutter und meine Stiefmutter scheinen noch nicht da zu sein, aber Adelie kommt hinter ihrer großen Schwester hervor, wirft einen kurzen Blick zu mir und Letty herüber, raunzt etwas wie "da biste ja wieder!" und schlurft in ihr Kinderzimmer, dessen Tür sie mit einem lauten Knall zuschlägt.
Ich kann nicht anders, ich muss noch breiter grinsen.
Wirklich, es hat sich absolut nichts verändert.

Obwohl das nicht ganz richtig ist. In mir drin - da hat sich einiges verändert. Ich weiß nicht, wie lange es anhält, ob ich es schaffen kann. Ob ich eben bald wieder in mein altes Muster zurückfalle. Aber genau genommen will ich es auch noch gar nicht erfahren - um nicht jetzt schon von mir selbst enttäuscht sein zu müssen.
Denn es ist wahr - diese Woche hat mir was gebracht. Aber meine Augen auf Dauer öffnen? Das wäre doch zu einfach. Denn wenn es wirklich so schnell gehen würde, gäbe es nicht so viele wie uns.
Uns - wir, die so viel Leere in uns haben, dass wir voller sind als jeder Erfüllte. Dass wir überquellen davon, nicht wissen, wohin, und uns deshalb im Kreis drehen. Wir, die wir eben mit diesen Gedanken gesegnet oder verflucht sind - Auslegungssache. Vielleicht sind wir nicht blind. Aber mit felsenfest geschlossenen Augen.
Und daran ändert eine Woche nichts, Fräulein M. Egal, was Sie sagen.

Die Wahrheit ist, dass ich ganz froh bin, als Letty einfach mit auf mein Zimmer kommt, sich auf meinem Bett zusammenrollt wie eine zufriedene Katze, und ihre Augen zumacht. Um mich nicht zu sehen, um mich nicht zu fragen, wie es gewesen ist. Um mir nicht zu erzählen, was ich verpasst habe.
Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich dankbar dafür bin, dass jemand die Augen so konsequent vor mir geschlossen hält.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Macht's gut und auf Wiedersehen.

Sie durchschaut mich sofort - ich komme zur Tür rein und habe das Gefühl, dass sie alles über mich weiß. Komplett. Augenblicklich. Die Mühe, mir eine ausgebeulte Hose, einen weiten Pullover und darunter zwei T- Shirts anzuziehen, hätte ich mir überhaupt nicht machen müssen. Gestern noch habe ich überlegt, warum ich Angst vor dieser Frau habe - jetzt ist es mir ohne Zweifel klar. Weil sie alles über mich weiß, ohne auch nur mit der Wimper zucken zu müssen.
Da sie nichts sagt, frage ich sie, was gestern passiert ist, dass mein Termin verschoben wurde. Sie schürzt nur die Lippen und rückt ihre Brille zurecht. Dann sagt sie, dass ich nicht so tun soll, als wäre ich nicht erleichtert gewesen. Wie Recht sie hat - denn das war ich, zumindest für einige Sekunden, wirklich. Bis mir klar wurde, dass aufgeschoben eben nicht aufgehoben ist. Auf meine Frage antwortet sie natürlich nicht, sondern schiebt mir wortlos die Mappe mit meinen Blutwerten zu. Ein kurzer Blick darauf genügt mir, um zu wissen, dass es nicht gerade rosig um mich bestellt ist. Langsam sehe ich wieder auf, beobachte meine Ärztin, die sich für einen Augenblick lang unbeobachtet zu schein fühlt. Sie ist alt, fett und unfreundlich, aber heute sieht sie ganz besonders aus wie eine bissige Bulldogge. Als sie meinen Blick bemerkt, grunzt sie, schüttelt den Kopf.
Nein, kein passendes Organ gefunden. Darauf war ich vorbereitet.

Auf das, was folgt, nicht. Soll heißen - ich habe mich davor gefürchtet. Deshalb konnte ich nicht schlafen. Deshalb konnte ich kaum klar denken. Deshalb konnte ich den ganzen Tag keinen Bissen essen.
Sie steht auf und sagt, ich soll meinen Pullover und meine Schuhe ausziehen. Ich bleibe sitzen. Sie zerrt eine große Wage dabei, die sie bestimmt noch aus dem ersten Weltkrieg oder so was aufgehoben hat (nicht nett, ich weiß, aber sie ist wirklich furchtbar). Sie wiederholt ihre Aufforderung. Langsam mache ich mich daran, meine Schuhe aufzuknoten. Als ich anschließend den Pullover immer noch nicht ausgezogen habe, bellt sie mich förmlich an, es doch zu tun. Ich sage nein. Sie wird wütend, macht mir Vorwürfe. Also gebe ich nach.

Es ist der Moment, vor dem ich mich gefürchtet habe. Seit ich diesen Blog gestartet habe, stand ich nicht mehr auf der Waage. Ich will das Ergebnis nicht sehen... das heißt - ich will es schon. Irgendwie. Ein wenig. Aber SIE soll es nicht - nur leider führt kein Weg daran vorbei.
Für einen Augenblick lang kann ich nicht glauben, was da steht. Das Herz springt mir bis zum Hals. Wie gebannt blicke ich auf die Zahl. Meine Ärztin nimmt ihre Brille ab und sieht mich lange an. Dann dreht sie sich um und stapft zu ihrem Telefon, drückt nur eine Taste und benachrichtigt meine Psychiaterin.
"Dominic J. wird ab morgen eine Woche bei Ihnen bleiben", blafft sie in den Hörer, "wozu haben Sie den Jungen überhaupt so lange auf der Straße gelassen? Sein BMI ist bei 13 nochwas!"

Mir rauscht es noch im Kopf, als ich langsam nach Hause gehe. Eine ganze Woche. Eine ganze Woche lang werden sie versuchen, mich voll zu stopfen. Im Flur angekommen tritt mir meine Mutter entgegen. Sie weiß schon Bescheid, ich sehe es ihr an - aber sie sagt kein Wort. Tut sie nie. In meinem Zimmer steht bereits eine Tasche, die ich vermutlich packen soll, eine stumme Aufforderung, die sie niemals aussprechen würde. Letty geht an meiner Tür vorbei, bleibt stehen und starrt mich an.
Ich blicke nicht auf. Ich kann nicht.
Ich kann ihr nicht in die Augen sehen.

Mittwoch, 2. Mai 2012

Eine verlängerte Galgenfrist.

Ich bin nicht gerne hier. Ich fühle mich unwohl, ich zucke bei dem kleinsten Geräusch zusammen. Es muss nur ein Vogel sein, der draußen am geöffneten Fenster vorbei flattert, und ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Stattdessen starre ich diesem Tier nach, das so leichtfertig davon fliegt. Warum haben Tiere eigentlich kaum Probleme mit Beziehungen, Familie, Krankheit und Gewicht? Hätte ein Spatz in freier Wildbahn Organprobleme, würde er einfach sterben.
Doch wir Menschen klammern uns aneinander, um auch das natürlichste, das uns noch erhalten geblieben ist, zu vertreiben, verscheuchen und vergessen - den Tod. Dabei wäre es so viel einfacher, wenn sie mich einfach lassen würden. Wenn ich nicht jede Woche in dieses Krankenhaus kommen müsste, um mich untersuchen zu lassen, um fest zu stellen, dass sich nichts verändert hat. Wenn ich nicht jeden Tag diese vielen Medikamente schlucken müsste, von denen mein Leben abzuhängen scheint. Und es gibt wirklich nichts schlimmeres, als von irgendwelchen Kapseln abhängig zu sein, dessen bin ich mir komplett sicher. Vielleicht beneide ich den Vodel deshalb so?

Ich sage ja nicht, dass ich sterben will. Ich kann Letty nicht alleine lassen, außerdem ist da ja der mir bereits sichere Studiumsplatz. Dass ich Zukunft habe, sage ich mir immer wieder, eine Zukunft, die ich nicht verlieren möchte. Aber was ist denn schon eine verlorene Zukunft, wenn man im Grunde genommen auch keine Gegenwart besitzt? Was ist das für ein Gefühl, das in meiner Brust sitzt - das mir sagt, dass ich hoffnungslos auf so viel angewiesen bin, auf Medikamente, auf Untersuchungen, auf Spritzen, auf finanzielle Unterstützung, auf zwei immer noch nicht gefundenen Spendernieren?

Es ist ein Tanz mit mir selbst, wie auf einem hoch gespannten Seil. Auf der einen Seite gebe ich nicht nur vor, sicher zu stehen, die Stange mit beiden Händen gepackt zu haben und Balance halten zu können - sondern glaube es wirklich. Weil ich es will. Weil es mir hilft.
Und auf der anderen Seite bin ich doch eigentlich schon nur so heftig am Wanken, wie ich kann - habe die Stange schon längst verloren. Also ist es eigentlich nur noch eine kurze Frage der Zeit, dass ich falle, richtig?

Eine Krankenschwester kommt zu mir und fragt, ob ich auch morgen Zeit hätte. Es sieht danach aus, als habe meine Ärztin einen privaten Zwischenfall und könnte deshalb nicht zum vereinbarten Termin. Ich nicke nur, auch wenn es sich anfühlt, als hätte man den Galgen, mit dem ich mich schon angefreundet hatte, wieder so verschoben, dass ich ihn mit wachsender Panik betrachten kann.
Dann also morgen.

Dienstag, 1. Mai 2012

Alte Gewohnheiten.

Langsam aber sicher fange ich an, nicht mehr an Zufälle zu glauben.
Ich will mir eigentlich nur noch mal die Beine vertreten, bevor ich mir den letzten Lernstoff ansehe. Ich gehe im Kopf alles, was ich bisher reingeschleust habe, noch mal durch. Dabei achte ich weniger auf meine Füße, als darauf, auch jede Form von Artenbildung auswendig zu können. Schließlich mache ich eine Pause - ja, der große dürre Junge hat die gleiche Ausdauer wie der dicke alte Mann dort hinten - und lasse mich auf einer Parkbank nieder, um ein wenig zu verschnaufen. Meine Schulter, die gestern noch wie Hölle weh getan hat, scheint sich mittlerweile mehr oder weniger beruhigt zu haben. Zwar tut es ab und an noch weh, den Arm über den Kopf zu heben, aber generell ist sie kein Grund mehr zur Besorgnis.

Ja, da bin ich mit den Gedanken auch schon wieder bei dieser bizarren Party, zu der ich gegangen zu sein mittlerweile mehr als bereue. Als wäre das alles nicht genug, fällt plötzlich ein Schatten auf mich. Verwundert darüber, dass die in der Sonne stehende Person nicht weiter geht, hebe ich den Kopf - und erkenne, blinzelnd, Cassy. Sie sieht ganz anders aus, als in der besagten Partynacht - ihre blonden Haare fallen jetzt in leichten Locken bis zu ihren Schultern, sie ist ungeschminkt und trägt einen dicken Mantel, obwohl es eigentlich sehr warm ist. Für einen Augenblick starren wir uns nur an, dann nimmt sie neben mir auf der Bank Platz. Plötzlich wünsche ich mir, ich hätte einen weiteren Pullover angezogen. Der, den ich jetzt trage, geht mit nur bis zu den Armbeugen, sodass man meine mickrigen Unterarme deutlich sehen kann.
Ich fühle mich noch immer unbeschreiblich unwohl - nicht nur wegen der Stille zwischen uns - als sie anfängt zu sprechen. Sie erkundigt sich nach meiner Schulter, entschuldigt sich für das Verhalten ihres Freundes. Nachdem das abgehackt ist, fangen wir an, über Clarisse zu reden, bevor sie wieder persönlicher wird.

An dieser Stelle kann ich nicht anders und wimmle sie ab. Ich tue so, als müsste ich wieder Heim, da wir essen würden - ein ironischer Gedanke, wenn man bedenkt, dass ich nie mit den anderen zu Mittag esse.
Wann das angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Irgendwann hat eine Apfelsine am Morgen eben für den ganzen Tag gereicht. Als ich mich beim weggehen umdrehe, sitzt Cassy immer noch auf der Bank, völlig regungslos, den Blick auf den Boden gewandt. Ich weiß sofort, dass das alles nicht so verlaufen ist, wie sie wollte.

Später erzählt mir Clarisse, dass Cassy sich gestern noch von ihrem Freund getrennt hatte. Und dass sie Clarisse angerufen hatte, um zu erfahren, wo sie mich finden könnte, daraufhin zum Park kam.
Ich weiß wirklich nicht, was ich darüber denken soll.

Montag, 30. April 2012

Krieg in meinem Kopf.

Als ich aufwache, dröhnt mir der Schädel. Die anfangs so verschwommenen Linien nehmen Gestalt an, und ich erkenne Clarisse, die neben mir sitzt und scheinbar lesend darauf gewartet hat, dass ich wach werde. Einen Moment beobachte ich die große Schwester meiner kleinen Halbschwester, mit der ich nicht direkt verwandt bin, mir aber trotzdem gemeinsam mit den anderen die Wohnung teile. Sie sieht ein bisschen fertig aus, ganz so, als hätte sie letzte Nacht wenig Schlaf bekommen. Noch ehe ich mich entscheiden kann, ob ich so tue, als ob ich weiterschlafe, oder nicht, hebt sie den Blick und sieht mich an. Sie zögert, dann breitet sich ein mitfühlendes Lächeln auf ihren Lippen aus. Sie legt ihr Buch weg und fragt mich mit gefalteten Händen, wie es meiner Schulter ginge.

Meine Schulter? Ich runzle die Stirn, hebe meinen rechten Arm an und - fahre zusammen. Schmerz durchzuckt mich von oben bis unten, ich fluche leise. Mit zusammengebissenen Zähnen erkundige ich mich, was passiert ist. Clarisse hat jetzt aufgehört zu lächeln, sondern sieht mich eher ungläubig an. In dem Moment, in dem sie mich fragt, ob ich denn wirklich gar nichts mehr weiß, fällt mir langsam aber sicher wieder etwas ein. Die Erinnerungen an die Party werden wach, etwa zwei Minuten, nachdem ich die Augen aufgeschlagen hatte.

Gestartet war alles eigentlich optimal. Wider Erwarten hatte ich Martens, Daniel und Mathis nicht verpasst, wir waren zusammen in dem Club angekommen, ich wurde hier und da mit einem einem fröhlichen Schulterklopfen oder Nicken begrüßt. Nachdem ich den ersten Cocktail, den mir ein Mädchen in die Hand gedrückt hatte, einem anderen geschenkt hatte, kam mir kein Alkohol mehr unter. Das riesige Buffet am Rand des Raumes sah so wenig einladend aus, wie noch nie, dafür waren die Leute unglaublich offen. Schnell hatten Mathis und ich ein Gespräch mit zwei Mädchen aus Clarisses Stufe - eine unter uns - angefangen. Die eine, Cassy genannt, fragte mich, ob ich mit ihr tanzen würde, und ich willigte ein. Woran auch immer es lag - am Licht, der Musik, der stickigen Luft - hatte ich weniger Bedenken, was das anging, als dass mir doch noch von irgendwo her Alkohol zugeflogen kommen würde.

Und dann? Wieder ein fragender Blick Richtung Clarisse. Sie seufzt. Nachdem sie fertig mit erzählen ist, sitze ich mit ungläubigem Gesicht in meinem Bett und starre sie an. So, wie es sich anhörte, war Cassys Freund aufgetaucht, hatte uns tanzen sehen und daraufhin eine Prügelei gestartet, die darin geendet hatte, dass Martens ihn auf die Bretter gehauen hatte. Ich fühle einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Clarisse erzählt weiter, dass ich nach dem ganzen ziemlich benommen gewesen wäre. Eine knappe Stunde später hätte sie mich nach Hause geschleppt.

Ich könnte alles fragen. Wie spät es jetzt war, wie es Martens geht, ob er diesem Freund etwas gebrochen hatte, was Cassy zu alledem sagte. Warum Clarisse auf einer Party ab 18 gewesen war und dass ich ihr dankbar für die vermeintliche Rettung bin. Die einzige Frage, die ich ihr stelle, scheint sie aus der Bahn zu werfen. Sie steht auf, nimmt ihr Buch in die Hand und geht schnell zur Tür. "Du hättest dir echt wehtun können, verdammt!", zischt sie, ihre Stimme klingt trotz der geringen Lautstärke irgendwie schrill, "und das einzige, was dich interessiert, ist, ob du noch vom Buffet gegessen hast?! ...im Ernst jetzt, du hast sie doch nicht mehr alle!"
Sie reißt die Tür auf, ich sehe ihren Bauchspeck in dem engen Partytop, das sie immer noch trägt, hüpfen. 
"Gute Nacht, Nic!"

Gott, ich weiß doch auch nicht, warum.

Samstag, 28. April 2012

Wen nennt ihr hier schwach?

Sie lachen, als sie merken, dass ich den Fisch nicht aus dem Wasser gezogen bekomme. Ehrlich gesagt - ich finde das irgendwie auch zum Grinsen. Da fischt man Monat um Monat, belächelt Mathis, der irgendwie nichts mit einer Angel auf die Reihe bekommt, nimmt ein paar Dutzend Kilo ab und schon kriegt man nicht mal mehr seinen Fang aus dem Wasser? Ich zerre ein wenig an der Rute, wie es die Anfänger machen, kassiere dafür einen Rüffel von Martens, der mir schließlich die Angel wegnimmt und den Fisch an Land zieht. Später sitzen wir um unseren Fang herum, ich bin mittlerweile nicht mehr so amüsiert aufgelegt, sondern mache mir so meine Gedanken.
Gestern erst wurden mir meine Grenzen mehr als überdeutlich aufgezeigt, heute schon wieder. Ich frage mich ernsthaft, ob das nur an meinem Gewichtsverlust liegen kann - ich habe keine Erfahrungen damit. Irgendwo, ganz tief unten im Bauch, knäulen sich Sorgen und Zweifel zusammen, werden schwerer und schwerer. Was, wenn es an den Nieren liegt? Was, wenn es schlimmer wird? Was, wenn ich irgendwann nicht mal mehr schaffe, die Angel ordentlich auszuwerfen?

Es ist zumindest beruhigend, dass dieser Problemfisch letztenendes der größte ist, den wir heute gefangen haben. Mathis fängt wieder an, über diese Party zu reden, die morgen stattfinden soll. Ich finde es stumpfsinnig, zu feiern, bevor alle Prüfungen vorbei sind, aber vermutlich bin ich auch einfach nicht der passende Mensch dafür. Zu meiner Überraschung ist Martens aber ziemlich begeistert - Daniel wollte sowieso dorthin. Da steht es drei gegen einen und sie bitten mich, mit zu kommen. Alle Argumente, die ich in dem Moment bringen kann, sind, dass wir am Mittwoch wieder schreiben müssen, die nicht meine Musik spielen und ich aktuell ohnehin nicht in Bestform bin. Aber was nützt es mir? Nichts. Sie überreden mich tatsächlich. Ich willige ein, mich mit den Menschen meines Jahrgangs - von denen ich nur die Hälfte beim Namen kenne, weil ich erst ein Jahr dort bin und wir wirklich enorm viele sind - morgen Abend auf engstem Raum zusammen zu finden, natürlich möglichst wenig bekleidet, im Falle der Mädchen möglichst auffällig geschminkt, zu möglichst lauter Musik, in möglichst rasendem Takt.

Es ist nicht so, dass ich nicht gerne unter Leute gehe. Das Problem sind eben einfach die Leute - abgesehen von Martens, Mathis und Daniel, sowie ein paar Freundinnen von Clarisse kenne ich kaum jemanden dort. Ich darf kein Alkohol trinken, lasse mir aber viel zu leicht welchen andrehen. Ich darf nicht so viel tanzen und das, was man eben auf solchen Partys macht, lasse mich aber viel zu schnell dazu überreden, es doch zu tun.
Ich bin mir so verdammt unsicher, dass ich wieder nicht schlafen kann.
Ich hoffe nur, ich mache morgen Abend keine Dummheiten.

Freitag, 27. April 2012

Ich komme zurück, wenn ich bereit bin.

Ich stehe vor dem Schild, das mir anzeigt, dass es noch etwa 7 Kilometer bis zu Bergspitze sind. Ich drehe mich um, blicke zurück. Wie viel bin ich schon gelaufen? Ich hätte mich vorher informieren sollen. Aus einem spontanen Spaziergang ist eine Art Wettlauf mit mir selbst geworden. Ich hatte nur Luft schnappen und die Sonne genießen wollen, so lange sie noch da war.
Aber dann hat er mich gepackt. Dieser Wunsch, wieder zu laufen. Egal wie krank, egal wie vernünftig, ich musste es einfach tun. Alles hinter mir lassen. Alles zu vergessen, wenn auch nur für den Moment, in dem mir der Wind ins Gesicht schlägt. Ich bin los gelaufen.
Schneller. Weiter.

Jetzt sind sie weg, diese Kräfte, die mich getragen haben. Mein Herz schlägt unruhig, mein Bauch tut unheilvoll weh. Meine Beine, so dünn sie geworden sind, scheinen auch jede Erinnerung an die Zeit verloren zu haben, an der so eine Strecke eine leichte Übung für sie gewesen ist.
Ich schnaufe, ich halte mich an dem Schild fest. Mir ist schlecht. Ich kann nicht weiter.
Langsam drehe ich mich um und mache mich an den Abstieg. Ich komme quälend langsam voran, ich frage mich, wie ich so gedankenlos hier hoch habe rennen können. Meine Ärztin würde mich vermutlich ohrfeigen - nein, sie wird es. Denn irgendwie findet diese Frau alles heraus, zumindest alles, was "Außen" betrifft.

Aber "Innen" bleibt nur für mich zu verstehen. "Innen" gehört mir.
Ich liege auf dem Bett, doch ich kann nicht schlafen. Ich wälze mich hin und her. Ich denke an den Berg. Ich denke daran, dass ich ihn früher ohne Mühe hätte hoch laufen können. Die Erinnerung scheint so lange her zu sein, dabei sind es bestimmt nicht einmal 6 Monate. Sogar das Zurückrechnen fällt mir schwer, alles scheint so fern von der Realität, so schwer vorstellbar, wie das Behandeln irgendeines Umstandes aus dem 30- Jährigen Krieg.
Ich hoffe nicht, dass mein Krieg so lange dauern wird - aber ich weiß, dass ich ihn diesem Berg hiermit erklärt habe. Irgendwann, das weiß ich, bin ich wieder so gesund, dass ich diesen Berg hoch laufen kann, ohne die ganze Nacht mit rasendem Herzen und weit geöffneten Augen im Bett zu liegen.

Donnerstag, 26. April 2012

Was sich verändert hat.

Seit ich um Silvester herum abgeklappt bin und festgestellt wurde, dass ich an Nierenversagen leide, hat sich vieles verändert. Ich möchte nicht sagen, dass mein Leben vorher wundervoll war und das alles zerstört hat, aber ich gebe zu, dass es mir fehlt - das "alte" Leben, so verhasst es damals gewesen ist. Ich erinnere mich daran, als ich den Post von A l l y lese, schüttle den Kopf, versuch aufzuhören; zu denken, tu's nicht.

Die letzten Donnerstage habe ich im Krankenhaus oder mit lernen verbracht, deshalb weiß ich nicht, wie lange ich schon nicht mehr hier gewesen bin. Ich sitze auf der Treppe zur Halle, als Frau D., die Tanzlehrerin, kommt. Für einen Moment lang sieht sie geschockt aus - ich weiß nicht, wieso. Wegen mir? Meinem Aussehen? Oder einfach, weil sie nicht erwartet hätte, mich nach längerer Zeit doch noch mal zu sehen? Dann lächelt sie aber, etwas gezwungen vielleicht. Sie sagt, sie freut sich, dass ich wieder da bin. Fragt, ob es mir gut geht. Und ich nicke. Natürlich nicke ich.
Tanzen ist so ziemlich die einzige Sportart, die mir noch geblieben ist. Wegen der Nieren darf ich nicht mehr segeln, nicht mehr Basketball spielen, nicht mehr joggen, kein Schulsport, kein Karate. Aber Standardtänze - Walzer, Tango, wie sie alle heißen - hält meine Ärztin für unbedenklich. Trotzdem bemerke ich, wie mir die Panik kommt. Es ist Wochen, vielleicht sogar Monate, her, dass mich meine Tanzpartnerin gesehen hat. Ich denke an die Tänze, an denen wir uns nahe sind. Das ist bisher nie ein Problem für mich gewesen - wir haben uns gut verstanden, sie ist eine gute Tänzerin, freundlich und vielleicht ein bisschen zu sehr wie Letty - aber jetzt verursacht es den Wunsch in mir, wegzulaufen. Ich will nicht - ich weiß nicht. Ich glaube, ich möchte nicht, dass sie merkt, wie viel sich verändert hat, nur, weil sie meine Schulter anfassen muss.

Doch ich muss da durch. Jetzt oder nie. Es ist der einzige "Sport", der mir geblieben ist.
Als sie mich sieht, breitet sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus, von einem Ohr bis zum anderen. Sie ist froh, mich zu sehen, erzählt, dass sie die letzten Wochen immer mit der Lehrerin tanzen musste, weil ihr Partner - ich - gefehlt hat. Ich entschuldige mich, sie winkt ab.
Wir tanzen, und es ist furchtbar. Ich bin furchtbar. Ich scheine nicht nur alles verlernt zu haben, sondern auch hoch sensibel geworden zu sein. Es muss nur jemand von hinten meinen Rücken anstupsen, um mich auf meine Haltung aufmerksam zu machen, und ich zucke zusammen. Als würde man mich abstechen wollen. Am Ende wirkt sie irgendwie enttäuscht, und es tut mir Leid.
Als die zwei Stunden vorüber sind, fragt sie mich, ob ich nächste Woche komme. Ich sehe sie an, ich weiß nicht, was sie hören will. Würde sie ein ja freuen, oder wäre sie erleichtert, wenn ich nein sage? In einem bin ich mir sicher - früher hätte sie mich das nicht gefragt. Sie wäre davon ausgegangen.
Ich antworte, dass ich es nicht genau weiß, wegen meiner Prüfungen. Sie nickt, sie sieht ein kleines bisschen verstört aus. Sie tut mir Leid.

Mittwoch, 25. April 2012

Jungs reden über so was nicht.

Wir hätten wieder angeln gehen können, wie wir es oft tun. Mir gefällt angeln, man muss nicht viel machen - nur auswerfen, still sitzen, warten. Dieses Mal haben wir uns nicht am Wasser getroffen. Das Wasser erinnert mich immer an den einzigen Ort, den ich unter den vielen, an denen wir schon gelebt haben, wirklich mochte. Der Ort, an dem ich segeln konnte. An dem ich die Illusion hatte, frei zu sein, wenn auch nur für wenige Stunden auf dem Wasser. Der Ort, an dem ich Cilli hatte.

Daniel und Mathis brauchen ein paar neue Klamotten, und auch ich habe nach langem Hin und Her beschlossen, etwas Geld mitzunehmen. Wir klappern ein paar Geschäfte ab, aber keiner von uns kommt wirklich zum Punkt. Wir müssen merkwürdig aussehen, unter den ganzen sommerlich gekleideten Menschen, den Mädchen mit ihren knalligen Taschen, Sonnenbrillen und hohen Schuhen, den Jungs mit ihren bunten Cappys, tief sitzenden Hosen und ihren unter den Arm geklemmten Skateboards. Wir sind einfach vier normale Kerle, zwei davon viel zu groß, einer davon zusätzlich viel zu dürr.
Ich versuche, die Sonne zu genießen, denn eigentlich ist sie doch etwas schönes. In einem Geschäft probiere ich ein paar T- Shirts an, doch sie sind alle zu weit und hängen mir von den Schultern, als hätte jemand sie an beiden Enden gepackt und daran gezogen, damit sie wie ausgeleiert sind. Früher waren sie mir maximal zu kurz, weil ich so groß bin. Ich gucke nicht mal in den Spiegel, der in der Kabine ist.
Mathis, der ein paar Hosen anprobiert hat, will sehen, wie uns unsere Sachen stehen. Mathis ist immer so. Es trägt zur Stimmung bei, aber es kann auch unglaublich unangenehm sein.Wie jetzt.

Ich ziehe mich schnell wieder um. Das ist nichts für mich - das alles hier - und erst recht nicht diese Kleidung. Als wir das Geschäft verlassen, sehe ich Daniel, Martens und Mathis kurz an. Für einen Moment frage ich mich, ob sie eigentlich bemerkt haben, wie dünn ich bin. Ob sie sich fragen, warum. Oder ob ich mit ihnen darüber sprechen sollte - ob ich ihnen sagen sollte, dass ich Schiss habe, dass ich mich nicht mehr ansehen will, dass ich mir Sorgen mache, dass ich keinen Elan finde; diese Sorgen zu besänftigen.
Ich mache den Mund auf.
Ich mache den Mund zu.
Wir gehen in das nächste Geschäft, dieses Mal probiere ich nichts an, sondern bleibe neben einem Kleiderständer stehen und denke an nichts. Bis ich wieder zu Hause bin.

Ich bin ihnen nicht böse, dass sie mich nicht darauf ansprechen. Ich bin dankbar. Ich kann es verstehen. Es wäre mir unangenehm. Es wäre, als würden wir plötzlich anfangen, über unsere Schwächen zu reden. Das will ich bestimmt nicht.
Ich hoffe trotzdem, dass es nur ihre Münder sind, die so fest verschlossen bleiben, und nicht ihre Augen.

Dienstag, 24. April 2012

Ihr Sohn lächelt nicht.

Ich schwöre, dass es schon so einige Momente in meinem Leben gab, in welchen ich sie gern in der Schule gehabt hätte - zu irgendwelchen Grillpartys, Leistungsbesprechungen oder Motivationsgesprächen. Sie hatte nie Zeit, sie musste immer arbeiten.
Heute nimmt sie ihre vermutlich letzte Chance wahr, bevor ich Ende Mai mit der Schule abgeschlossen haben werde, und geht zum Elternsprechtag. Ich komme mit. Wir gehen schweigend nebeneinander her, und als ich auf dem Flur Daniel mit seinen Eltern sehe, wage ich nicht mal, ihm "Hay" zu sagen, sondern hebe nur kurz die Hand. Wenn meine Mutter neben mir ist, habe ich das Gefühl, verstummt zu sein, beinahe, als hätte man mir die Zunge aus dem Mund geschnitten und sie ersetzt durch einen großen, widerlichen Kloß, der einem sogar am Schlucken hindert.
Meine Tutorin sieht sie das erste Mal und ist sofort hin und weg. Keiner glaubt meiner Mutter, wie alt sie ist. Sie hat mich nicht so jung bekommen, dass man sie für eine dieser Frauen halten würde, aber trotzdem nicht so spät wie die Durchschnittsmutter. Es muss ja für jeden Menschen eine Sache geben, die er perfekt kann.
Das Gespräch verläuft verdächtig steil abwärts. Es geht um meine Leistungen, an denen meine Tutorin nichts auszusetzen hat. Ich schon. Ich weiß, dass ich all das verdammt noch mal viel besser könnte, wenn man mich nicht dauernd ins Krankenhaus schleppen würde (müsste?). Oder in die Psychiatrie. Oder wo sie mich sonst noch überall hinstecken.
Meine Mutter nickt nur, sagt, dass sie stolz auf mich ist. Ich kann sie nicht ansehen. Sie mich auch nicht. Ich weiß genau, dass sie lügt. Sie sagt es nur, weil meine Lehrerin es von ihr erwartet.
Die wirkt am Ende recht unzufrieden. Sie dreht sich ein wenig auf ihrem Stuhl, neigt leicht den Kopf, sieht mich kurz an und schaut wieder zu meiner Mutter. Dann sagt sie doch, was sie auf dem Herzen hat - dass ich zu wenig lächeln würde. Dass ich humorlos wäre. Dass sie sich Sorgen machen würde, ob mir das alles ein wenig zu viel wäre.

Moment. Mir. Das alles zu viel. Bevor ich was antworten kann, schüttelt meine Mutter den Kopf. Ich möchte sie auf der Stelle packen und schütteln. Ich möchte sie fragen, was sie sich dabei denkt. Wie sie es wagen kann. Ich bin so wütend, dass ich keinen Ausdruck finden kann.
"Das liegt an der Musik, die er hört", antwortet sie mit einem feinem Lächeln, "dieses laute Geschrei und Gebrülle."

Halt, stopp, alles auf Anfang.
Ich habe Nierenversagen und kriege kein Spenderorgan, ich kümmere mich um drei pubertierende Mädchen, ich verliere täglich weiter an Gewicht, ich schreibe Abitur, ich trauere meiner beschissenen Exfreundin nach, und der Grund, warum ich nicht lächeln kann ist - die Musik, die ich höre?!

Meine Tutorin sieht mich an, als erwartet sie eine Bestätigung von mir. Und ich? Nicke.
Ich Volltrottel.

Montag, 23. April 2012

Wochenstart, das Spiel beginnt.

Da sitze ich also, Hände gefaltet, Haar nach hinten gekämmt, und gucke sie an. Sie guckt zurück. Wir starren uns eine Weile gegenseitig an, bis sie dann doch nachgibt und sich umdreht, dorthin, wo ihre Unterlagen liegen. Nach einer kurzen Pause fragt sie mich, wie es mir geht, und ich antworte das gleiche, wie immer: "Ganz gut".
Dass sie damit nicht zufrieden ist, ist ja wohl klar.
Ich bin immer noch der Meinung, dass ich nicht zur Psychiaterin muss - die soll ihre Zeit lieber an Menschen verschenken, die wirkliche Probleme haben. Um das mal aufzuklären - es ist eigentlich nur passiert, weil ich Streit mit meiner Mutter hatte. Sie sagte mir, dass sie wieder umziehen würde, und ich sagte daraufhin, dass sie das Letty nicht antun kann. Nicht schon wieder. Das Mädchen ist erst 12 und schon öfter umgezogen, als die meisten Menschen in ihrem gesamten Leben. Daraufhin wurde sie wütend. Wenn meine Mutter wütend wird, ist sie lange zeit ganz still. Als dann meine behandelnde Ärztin angerufen hat, bat meine Mutter sie darum, einen Termin in der Psychiatrie festzumachen. Für mich natürlich - dabei ist sie es, die sich mal gründlich untersuchen lassen sollte.
Die Psychiaterin ist eigentlich eine nette Frau. Es freut sie, dass ich so sehr an ihrer Arbeit interessiert bin - das ist nämlich der Trick: von sich selbst ablenken. Ich spiele ein Spiel mit ihr. Und sie spielt mit.
Sie sagt, ich bin wieder dünner geworden. In ihrer Stimme schwingt ein unheilvoller Ton mit. Ob sie deshalb sauer auf mich ist? Dass ich weiter abnehme? Dass ich - der doch so furchtbar "erwachsen" und "kompetent" auf sie wirkt - nicht das tue, was sie von mir erwartet? Oder macht es sie traurig?
Ich beuge mich ein bisschen vor und antworte, dass ich gerade Abitur schreibe. Dass das mit Stress verbunden ist. Und ich lächle.
Sie soll nicht so enttäuscht von mir sein. Nur getäuscht.

Sonntag, 22. April 2012

Augen zu, Ohren auf.

Ich liege auf meinem Bett, starre die Decke an und weiß nicht, was ich denken soll. Cilli hat mich angerufen, eben gerade - nachdem sie sie sich mehr als zwei Wochen nicht gemeldet hat. Das letzte Mal, bei dem wir uns getroffen haben, sind wir mehr oder weniger im Streit auseinander gegangen. Ich weiß nicht, wo sie ist, und als ich sie danach frage, lacht sie nur. Hinter ihr rauscht es - Autobahn? Meer? Wald? Radio? Zug? - aer mehr erfahre ich nicht. Wir reden nicht lange, wir sind beide keine Telefonmenschen.
Ich hatte mir fest vorgenommen, sie nicht zu fragen, ob sie bald wiederkommt, irgendwann mal. Ich tue es trotzdem. Sie lacht nur wieder. Sie sagt, ich kann nicht immer darauf warten, dass sie zu mir kommt. Sie hat Recht. Sie macht mich wütend.
Als ich auf den roten Hörer drücke, knurrt mein Magen. Es ist ein Geräusch, an das ich mich schon gewöhnt habe. Ich lege meine Hand drauf und starre die Decke an. Ich weiß nicht, warum ich das mache. Ich könnte aufstehen und Letty und mir was zu Essen kochen. Meine Mutter würde sich bestimmt freuen, dass sie es nicht machen muss, wenn sie nach der Arbeit nach Hause kommt. Ich bleibe liegen. Wie soll ein Mensch auch essen, wenn er so viele Sachen im Kopf hat?
Vielleicht kann mein Körper ja anfangen, sich von dem ganzen Müll, der sich in meinem Hirn zu einem Einheitsbrei versammelt, zu ernähren. Oder er lässt es bleiben.
Ich liege auf meinem Bett, starre die Decke an und weiß, dass heute wieder einer der Tage sein wird, an denen ich keinen Bissen runter bekomme.